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Und Jimmy ging zum Regenbogen

Und Jimmy ging zum Regenbogen

Titel: Und Jimmy ging zum Regenbogen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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so frühstückte sie zuerst. Nach dem Frühstück wollte sie sich nicht mehr umbringen. Es erschien ihr plötzlich sinnlos, so etwas zu tun. Alles erschien Nora Hill von diesem Tage an sinnlos.
    In den wenigen Monaten, die noch bis zum Kriegsende verstrichen, wurde Nora Hill eine stadtbekannte Erscheinung. Sie hatte zahlreiche, hemmungslose, hektische Affären, die ebenso abrupt begannen wie endeten. Sie war auf jeder Party zu sehen. Sie tanzte und trank bis in den Morgen. Wenn ein Mann ihr gefiel, ging sie mit ihm. Es geschah, daß sie, neben einem solchen Mann in einem fremden Bett aufwachend, den Namen ihres neuesten Geliebten nicht kannte. Sinnlos, sinnlos war alles geworden. Sinnlos erschien Nora auch die hohe britische Auszeichnung, die der Botschafter Seiner Majestät ihr für Verdienste um die Vereinigten Königreiche dann Ende Mai überreichte. Sinnlos erschien es Nora, länger in Lissabon zu bleiben. Der britische Botschafter, ein älterer Herr, der sie verehrte, brachte es umgehend fertig, daß man ihr einen Platz in einem Kurierflugzeug der ›Royal Air Force‹ reservierte, das nach Wien flog, denn Nora wollte nach Wien. Offiziere, die von dort kamen, berichteten ihr, daß die Sowjets Carl Flemming verhaftet und in die Sowjetunion gebracht hätten. Nach menschlichem Ermessen kehrte er nie mehr zurück. Um so besser! Nora wollte allein sein, allein in einer Stadt, in der sie nichts an Jack Cardiff erinnerte.
    Ihre Maschine startete gegen Mittag des 6. Juni 1945.
    Als Nora Hill sich am Morgen dieses Tages aus ihrem Bett erheben und ins Badezimmer gehen wollte, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, daß die Beine vor Schwäche einknickten. Sie konnte sie kaum bewegen. Drei Tage später war Noras Körper gelähmt – von den Hüften bis zu den Zehen.

49
    Zwischen 1945 und 1947 nahmen die besten Spezialisten in Lissabon, Rom und Paris an Nora Hill insgesamt elf schwere Operationen vor. Ein ganzes Jahr verbrachte sie in der Pariser Privatklinik des französischen Neurologen Professor Fleury, denn es stand von Anfang an fest, daß man die Lähmung auf Verletzungen zurückführen mußte, die sie sich zugezogen hatte, als sie am Strand von Estoril auf die Holzbohlen des Landestegs geschlagen war.
    Die elf Operationen blieben ohne jeden Erfolg. Nora Hill konnte nicht stehen, sie konnte ihre Beine nicht um einen einzigen Zentimeter von der Stelle bewegen. Damit sie nicht die ganze Zeit über liegen mußte, erhielt sie einen besonders konstruierten Rollstuhl. In ihm vermochte sie zu sitzen. Die Schwester, die sie in jenen zwei Jahren betreute – eine junge Französin –, schob das Wägelchen auf den Balkon von Noras Krankenzimmer, wenn das Wetter schön war. In späteren Monaten wurde Nora von der jungen Schwester durch den Park der Klinik gefahren. Sie war eine unglaublich geduldige und fügsame Patientin.
    Nach der elften Operation sagte Professor Fleury, ein Mann mit weißem Haar und weißem Stutzbart, zu ihr: »Es hat keinen Sinn, Mademoiselle. Sie müssen die Wahrheit hören, ich weiß, Sie werden sie ertragen können. Wir haben alles Menschenmögliche versucht. Die Wahrheit ist …«
    »Daß ich nie mehr werde gehen können«, sagte Nora Hill ruhig, ihn unterbrechend.
    Professor Fleury nickte.

50
    Nora Hill nahm den endgültigen Bescheid in Gelassenheit hin. Mit einer für jedermann erstaunlichen Verbissenheit begann sie im Sommer 1947, nach vorhergegangenen Massagen jeder Art, sich auf ein Leben mit Krücken vorzubereiten. Sie übte täglich viele Stunden, bis zur Erschöpfung. Nur Krücken kamen für sie in Frage – jede andere Stützung der Beine schied infolge der weitreichenden Nervenlähmungen aus.
    Zum Jahresende 1947 war Nora Hill so weit, daß sie sich bereits ohne Hilfe auf ihren Krücken fortbewegen konnte. Noch immer besaß sie große Vermögenswerte an Schmuck, noch immer war sie eine reiche Frau. In Paris ließ sie sich eine neue, nun notwendige Garderobe, bestehend aus eigens für sie entworfenen Hosenanzügen jeder Art, anfertigen. Die britische Botschaft hier kümmerte sich in der gleichen intensiven Art um sie wie jene in Lissabon. Sie war doch eine Frau, die im Krieg ihr Leben für Großbritannien eingesetzt hatte! Am 3. Januar 1948 flog sie mit einer englischen Militärmaschine nach Wien.
    Die Villa nahe dem Lainzer Tiergarten hatten britische Offiziere requiriert. Sie fiel unter den Sammelbegriff ›Deutsches Eigentum‹ und gehörte damit dem österreichischen Staat. Alle

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