Und Jimmy ging zum Regenbogen
Schneetreiben und im aufkommenden Sturm dieses Abends, hatte Manuel das breite Ladenschild mit den altmodischen Buchstaben gesehen:
BUCHHANDLUNG UND ANTIQUARIAT LANDAU, GEGRÜNDET 1811
Die Seilergasse war einmal, vor zehn Jahren noch, eine stille, verträumte Straße gewesen. Nun, da sie zur Gegen-Einbahn der parallel verlaufenden glitzernden, lichtersprühenden und eleganten Kärnterstraße gemacht worden war, brauste hier pausenlos der Verkehr, schoben sich Autos, Autobusse, Motorräder, Fahrräder, Lastwagen in einem nicht endenden Strom an dem alten Geschäft vorüber, ertönten Hupen und Klingeln, knatterten Motoren, erfüllten die Stimmen eiliger Menschen, die sich durch das Chaos der Wagen drängten, weil die bloß im Schritttempo vorankamen, und eine Kakophonie von Geräuschen die einstige Stille.
Neben der Buchhandlung befand sich auf der einen Seite eine Mode-Boutique, auf der anderen ein Teppichladen. Der gewaltige Lärm der Straße drang nur ganz gedämpft in den Verkaufsraum, der gewiß eine Länge von fünfzehn und eine Breite von zwölf Metern besaß und sehr hoch war. »Grüß Gott. Der Herr wünschen?«
Manuel fuhr aus seinen Gedanken auf. Ein junges Mädchen stand vor ihm, eine Verkäuferin. Es waren noch zwei weitere im Laden, sah er, dazu ein jüngerer und ein älterer Verkäufer, und mehrere Kunden. Das Mädchen lächelte freundlich.
»Ich möchte Herrn Landau sprechen«, sagte Manuel. Er nannte seinen Namen.
»Herr Landau telefoniert gerade. Ich werde ihm sagen, daß Sie da sind. Einen Moment, bitte.«
Das Mädchen eilte fort.
Vom Zentralfriedhof hatte Manuel Irene Waldegg durch das Schneetreiben und den schon einsetzenden frühen Abendverkehr in ihre Apotheke an der Lazarettgasse gebracht.
Manuel sah sich im Verkaufsraum um. Vom Fußboden bis zu der Decke verbargen schwere, dunkle Eichenholzregale die Wände. Auf ihnen standen Bücher – in zwei Fronten neue, in zwei anderen antiquarische. Es gab mehrere mit abgeschabtem rotem Samt überzogene Riesenleitern, die hoch oben am Plafond in Eisenstangen hingen, und sich hin und her schieben ließen. Es gab alte hohe Stehpulte, auf denen man Bücher – Riesenfolianten oder Duodezbändchen – in Ruhe betrachten konnte, und zwei ebenso altertümliche Schaukelstühle.
Der Fußboden war aus langen, dunklen Bohlen gefügt. Im Lauf der vielen Jahre hatten hunderttausend Schuhe diese Bohlen ab- und krummgetreten, an manchen Stellen waren sie bucklig geworden, als seien sie von Pestbeulen übersät. Auf einem Podest stand eine schwere, vernickelte Registrierkasse, ganz sicher auch schon ihre achtzig Jahre alt. Wie viele verschiedene Währungen waren in diesem Zeitraum von ihr gezählt worden …
»Martin Landau«, hatte der Hofrat berichtet, »hält es so, wie sein Vater und sein Großvater und sein Urgroßvater es gehalten haben: Er verändert nichts in seinem Geschäft, nur, wenn es unbedingt sein muß. Er liebt das Alte. Alles Neue, jede Veränderung beunruhigt ihn. Sie werden, wenn Sie die Buchhandlung besuchen, ein Stück längst versunkenes Wien entdecken, ein Museum der Vergangenheit. Natürlich macht die Art, in der Landau die Vergangenheit erhält, auch den Zauber seines Geschäftes aus – besonders für Ausländer. Ah, old Vienna!«
Ah, old Vienna!
Ja, dachte Manuel, es geht wirklich eine Verzauberung aus von dieser Buchhandlung, selbst von ihrer Beleuchtung! Große gelbliche Milchglaskugeln hingen an langen Bronzestäben und verbreiteten ein warmes, heimeliges Licht.
»Sie wollten mich sprechen, mein Herr?« sagte eine sanfte, leise Stimme. Manuel, dessen Blicke weiter durch die Buchhandlung gewandert waren, sah zur Seite. Hier stand ein Mann, der sich ängstlich verbeugte. »Ich bin Martin Landau«, sagte der Mann. Er war mittelgroß, hatte ein schmales, blasses Gelehrtengesicht, ergrautes Haar, langfingrige Hände und sehr kleine Füße.
Nach Angabe des Hofrats war Martin Landau sechsundsechzig Jahre alt. Er wirkte älter. Sehr schlank, mager beinahe, und tadellos, wenn auch seltsam altmodisch angezogen, hatte er sanfte, stets erschrocken aussehende graue Augen und machte einen übersensiblen Eindruck. Die linke Schulter hielt er ständig hochgezogen, den Kopf leicht nach links geneigt, und die blassen Lippen waren zu einem furchtsamen Lächeln verzogen. »Dieser Mann«, hatte Groll gesagt, »
besteht
aus Angst, Sie werden es sehen. Er fürchtet sich vor allen realen und irrealen Dingen, vor seiner Umgebung, vor der
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