Und Jimmy ging zum Regenbogen
kommen sah?«
Valerie sagte: »Leg dich hin, Martin. Mach vorläufig überhaupt nicht auf. Warte, bis ich zurück bin. Es wird nicht lange dauern. Dann können wir immer noch sagen, daß wir beide weg waren und daß du gestürzt bist und
ich
dich verbunden habe.«
»Ich hasse Sie«, flüsterte Martin Landau, die milden grauen Augen auf Nora Hill gerichtet. »Ich hasse Sie …«
Valerie sagte hastig: »Gehen Sie schon voraus. Hier … hier ist eine Taschenlampe, Sie wissen ja nicht, wo die Schalter sind! Durch die Magazine ganz nach hinten, es gibt nur einen Weg. Sie kennen sich aus in der Spiegelgasse?«
»Ja.«
»Setzen Sie sich in der Kirche irgendwohin, wo es sehr dunkel ist«, sagte Valerie beschwörend.
»Ja.«
»Ich komme in ein paar Minuten nach.«
»Ja«, sagte Nora Hill und ging. Vier große Gewölbe mußte sie durchqueren, die Pistole in der rechten, die Taschenlampe in der linken Hand. Die Krokodilledertasche hing am linken Unterarm. Nach Moder roch es, nach altem Leder. Und Bücher türmten sich zu Bergen. Nora leuchtete hin und her, sie fand den Weg nur mir Mühe. Dann, endlich, erreichte sie eine Eisentür. Sie knipste die Lampe aus und legte sie auf einen Tisch. Sie schob den Sicherungshebel der Pistole zurück. Jetzt hielt kalte Furcht sie gepackt, aber jetzt war sie auch völlig skrupellos. Lebend kriegen die mich nicht, dachte sie. Ich weiß, was mich erwartet, wenn die mich kriegen. Lieber Gott, bitte! Schweiß stand wieder auf ihrer Stirn. Sie drückte die Klinke der Eisentür nieder, schleuderte sie auf und preßte sich mit dem Rücken an die Mauer neben dem eisernen Türrahmen. Sie wandte den Kopf seitlich, sah ins Freie. Ein alter Hof voller Gerümpel. In der Mitte ein kahler Kastanienbaum. Kein Mensch. Stille.
Absolute Stille. Nora trat einen Schritt vor. Noch einen. Noch einen. Nun stand sie in der Türöffnung und überblickte den ganzen Hof. Er war verlassen.
Aber vielleicht verbirgt sich jemand hinter den Abfalltonnen, hinter dem Gerümpel, dachte sie. Egal. Ich muß weg. Weg hier!
Sie trat aus der Tür, die Pistole immer noch in der Hand, halb versteckt unter der Tasche. Der zweite Schritt. Der dritte. Nichts. Ihre Knie waren weich wie Gelee, als sie den Hof überquerte. Sie erwartete jede Sekunde, angerufen zu werden. Dann mußte sie herumwirbeln und – nein, es war besser, dann zuerst zu tun, was der Mann forderte … Unsinn! Die Hände hoch, würde er fordern! Weg mit der Pistole! Fallen lassen! Nein, sie mußte sofort schießen. Und dann rennen, rennen …
Schritt. Schritt. Noch ein Schritt.
Nichts.
Als Nora die Hauseinfahrt erreichte, die zur Spiegelgasse führte, fühlte sie, daß ihr Rücken naß war von Schweiß. Niemand im Hof. Und in der Spiegelgasse? Sie trat schnell aus der Einfahrt. Nun war sie schon sicherer. Blick nach rechts, Blick nach links. Kein blauer Homburg, kein blauer Mantel. Wenige Passanten. Niemand kümmerte sich um sie.
Ich wußte es ja, dachte Nora und ließ die Pistole in die Tasche gleiten, Gespenster sieht dieser Landau, Gespenster! Nichts wie zu Carl Flemming jetzt. Zu Flemming und die ganze Geschichte vergessen. Ich bin doch nicht verrückt! Mein Leben riskieren für andere Menschen! Dieses Pärchen ist unzurechnungsfähig, wenigstens der Mann. Und die Frau – was geht sie mich an, was geht mich ihr Junge an?
Nora Hill begann mit schnellen, energischen Schritten die Spiegelgasse hinunterzugehen.
Ich habe die Schnauze voll, dachte sie. Auch Jack muß einsehen, daß ich da nichts mehr tun konnte. Schließlich liebt er mich und würde mich ungern verlieren. In die Stephanskirche – auch noch in den Dom! Ich gehe nicht in den Dom, Frau Steinfeld. Ich denke nicht daran. Nicht ums Verrecken will ich jetzt auch noch eine Sekunde mit dieser Sache zu tun haben. Stephanskirche – Sie werden mich da vergebens suchen, Frau Steinfeld. Tut mir leid. Tut mir furchtbar leid. Gehen Sie zum Teufel, Frau Steinfeld!
39
»Deus indulgentiarum Domine: da animae famuli tui Alois Zwerzina, cujus anniversarium depositionis diem commemoramus …«
Gedämpft tönte die Stimme des hageren alten Priesters aus der Katharinenkapelle hinaus in das mächtige Kirchenschiff des Stephansdomes. Die Katharinenkapelle ist einer von vielen Seitenaltären der Kathedrale.
Grau ist das Mauerwerk des Doms, dunkel und düster war es in ihm. Nur wenige Kandelaber brannten. Das Friedrichsgrab war eingemauert worden. Die mittelalterlichen Glasfenster hinter dem
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