Und keiner wird dich kennen
ratlos und streichelt Elias über den Rücken. »Ich könnte mal bei meinen Freunden nachfragen, deren Eltern ein Haus haben – Cheyenne zum Beispiel, vielleicht haben die ein Zimmer frei ...«
Lila blickt auf, ihr Gesicht ist hart. »Aber Cheyenne würde nicht den Mund halten, Schatz, das ist das Problem.«
Stimmt. Maja zuckt hilflos die Schultern, sie weiß auch nicht mehr weiter. Doch dann erinnert sie sich daran, dass vorhin das neue Prepaid-Handy geklingelt hat. Ein Adrenalinstoß durchzuckt sie. Diese Nummer haben nur ganz wenige Menschen! Sie hastet ins andere Zimmer, sucht nach dem Gerät, holt es und bringt es ins Bad. »Jemand hat vorhin versucht, uns anzurufen.«
Lila begreift sofort, was das bedeutet. Sie reißt Maja das Gerät fast aus der Hand, lässt sich die Nummer anzeigen und ruft zurück. Sogar Elias vergisst seinen Kummer, gespannt beobachtet er, was geschieht. »Jemand vom Weißen Ring «, flüstert Lila ihm und Maja zu. »Wollen nur mal hören, wie es uns geht und ob wir etwas brauchen.«
Enttäuscht stößt Maja die angehaltene Luft durch die Nase aus. Halb hat sie gehofft, dass es Andreas sein würde mit guten Nachrichten zu ihren neuen Papieren.
»Ja, wir brauchen etwas«, sagt Lila mit Tränen in den Augen. »Kennen Sie jemanden, der ein Zimmer für uns hätte? Oder eine Wohnung? Nur für ein paar Tage.« Als sie erklärt hat, was los ist, verspricht die Frau vom Weißen Ring , zurückzurufen.
Maja packt schon mal ihre Sachen, das dauert nur ein paar Minuten, viel haben sie ja nicht. Niedergeschlagen stopft Elias sein Spielzeug in seinen Kinderrucksack, das Vulkan-Buch passt nicht hinein und muss in den Koffer. Superdrache darf auf seinen Arm.
Das Warten ist eine Qual, erst eine Stunde später hört Maja wieder die Melodie des Prepaid-Handys. Lila ist gerade unten, um mit Frau Singerl zu reden, und so nimmt Maja den Anruf an. Es fällt ihr nicht leicht, etwas in ihr schreckt instinktiv vor dem Telefon zurück. Noch hat sie jedes Mal Angst, wieder diese hasserfüllte Männerstimme zu hören. Der Schock sitzt tief.
Doch es ist natürlich nicht Robert Barsch, sondern die Frau vom Weißen Ring . »Wir haben etwas gefunden. Eine unserer Helferinnen renoviert gerade eine ihrer Wohnungen, bevor sie sie wieder vermietet. Sieht dort zwar ein bisschen nach Baustelle aus, aber wenn Sie wollen, können Sie ein paar Tage lang einziehen.«
Eine Baustelle? Egal, scheißegal.
»Danke!«, stößt Maja hervor und notiert sich den Straßennamen mit Kuli auf dem Handrücken, weil sie in der Eile keinen Zettel findet. So viel zu ihren guten Vorsätzen! Alles, was zählt, ist jetzt eine neue Bleibe.
Robert Barsch sieht sich ganz in Ruhe in der Wohnung um, er hat es nicht eilig. Licht machen kann er leider nicht, das würde auffallen, doch zum Glück hat er sein Nachtsichtgerät in der Jackentasche mitgenommen. Gründlich und methodisch untersucht er ein Zimmer nach dem anderen. Seine Beute ist ein Datenstick im Zimmer der Tochter, eine Liste von Schulfreunden und deren Adressen im Zimmer des Sohnes und eine Handvoll vielversprechender Kleinkram, zum Beispiel Rechnungen; könnte ja sein, dass sich Lila bei diesen Unternehmen melden wird, um die Verträge zu kündigen. Doch die interessanteste Entdeckung ist die Schiefertafel, die am Eingang an die Wand gedübelt ist: Darauf ist eine handschriftliche To-do-Liste gekritzelt.
Auto zur Inspektion
Anmeldung neuer Zumba-Kurs
Frauenarzt (Pille!)
Pille? Ein heißer Schub der Eifersucht durchfährt ihn. Hat Lila ihn längst ersetzt? Der Gedanke, dass ein anderer sie besitzen könnte, ist unerträglich. Doch das Ausrufungszeichen hinter dem Wort bringt ihn zu einer anderen Folgerung. Für Lila wäre die Pille nichts Besonderes, für die Tochter schon – die müsste jetzt sechzehn sein, fast siebzehn. Wahrscheinlich ist das Zeug für sie.
Ganz nüchtern betrachtet ist diese Kursanmeldung die bessere Spur. Er hat zwar keine Ahnung, was Zumba ist, aber es klingt ungewöhnlich, und vielleicht wird Lila später noch einmal an einem solchen Kurs teilnehmen, wenn sie sich von der Flucht erholt hat.
Fertig. Robert bewegt sich wieder Richtung Tür. Soll er sich als kleines Souvenir Unterwäsche von Lila einstecken? Nein. So was ist unter seiner Würde, er ist schließlich kein Spanner.
Er ist so viel mehr: ihr Schicksal.
»Immerhin ruhig und friedlich«, sagt Lila, als sie sich in den leeren weißen Zimmern umsieht. Ihre Stimme hallt in den kahlen Räumen
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