Und keiner wird dich kennen
kann sie ihrem Bruder entlocken, dass der stärkste, coolste Junge in seiner alten Schule so hieß. Na klar , denkt Maja mitleidig. Ich wette, der hatte jede Menge Freunde .
»Alissa, willst du einen Orangensaft?«, ruft ihre Mutter aus der Küche, in der es bisher nur eine Spüle und zwei einzelne Elektro-Kochplatten gibt – alles, was gekühlt werden muss, steht in einer Pappbox auf dem Balkon.
»Klar, gerne, Julia«, gibt Maja mit künstlicher Fröhlichkeit zurück, denn für diesen Vornamen hat sich ihre Mutter entschieden. Es ist fast so wie Theaterspielen. Doch diesmal ist sie nicht nur für ein paar Stunden jemand anders ... diese Rolle muss sie für den Rest ihres Lebens spielen. Vermutlich ist es dadurch irgendwann keine Rolle mehr. Sondern alles, was sie hat.
Im Schultheaterstück – Mitternachtsdschungel hieß es – war sie Davina, die Schwester der Hauptfigur Jo. Maja lächelt schief, als sie sich erinnert. Die selbstbewusste Davina gibt ihrer schüchternen Schwester immer wieder einen Tritt in den Hintern, damit sie in die Gänge kommt. Im wirklichen Leben ist Maja nicht so der Typ, der Tritte austeilt, aber gerade diesen Unterschied fand sie reizvoll. Theaterspielen war eine gute Übung, redet sich Maja gut zu. Wer Davina spielen konnte, bringt es auch fertig, Alissa zu sein ...
Sie zuckt zusammen, als das Prepaid-Handy klingelt. Sofort geht Lila dran und diesmal sind es tatsächlich gute Nachrichten von Andreas. »Morgen früh geht es los«, richtet Lila ihnen aus. »Er lässt uns einen Wagen schicken. Einen Laptop bringt er mit, damit wir noch unsere Mail- und Facebook-Accounts löschen können.«
Morgen früh! Majas Knie werden weich. Morgen früh ist es so weit, dann gibt es kein Zurück mehr. Dabei würde sie am liebsten in ihr altes Leben zurückkehren, als wäre nichts passiert. Nur ist das leider unmöglich. Warum gerade ich? Warum wir? Was haben wir denn getan?
Elias hängt vor einer quietschbunten Zeichentrickserie fest, doch Maja ist nicht mehr nach Fernsehen zumute. Dies hier ist ihr letzter Tag als Maja Köttnitz.
Sie will einfach nur allein sein.
In einem der leeren Zimmer schließt sie die Tür hinter sich, legt sich hin und starrt an die Decke. Der harte Betonboden unter ihrem Rücken fühlt sich beruhigend wirklich an. Maja schließt die Augen und konzentriert sich auf dieses Gefühl. Alles andere ist gerade so verwirrend, so ungewiss.
Wenn man stirbt, zieht angeblich sein ganzes Leben an einem vorbei ... nur stirbt sie ja nicht wirklich – und muss daher die Show selbst organisieren. Maja experimentiert mit dem Essen der Familie – es gibt lila Grießbrei ... Maja fällt vom Pony und bricht sich den Arm, seither findet sie Pferde nur noch aus der Entfernung gut ... Papa zieht aus, warum nur, warum? ... Mama verliebt sich in einen Norweger, Maja bekommt einen kleinen Bruder und weiß zu Anfang nicht, ob sie das so toll findet ... sie klaut aus Gärten Blumensträuße zusammen, wird erwischt und schwört, es nie wieder zu tun ... Maja spielt Volleyball im Team und lässt es dann doch wieder sein ... ihr erster Freund Constantin küsst heimlich eine ihrer Freundinnen, Maja ist stinksauer ... sie gewinnt bei einer Verlosung einen Backstage-Pass für das Gotye-Konzert und bekommt ein persönliches Autogramm, sie ist hin und weg ...
Der Gedanke reißt Maja aus ihren Erinnerungen: O Mann, sie hat das Gotye-Autogramm daheim vergessen! Aber das ist leider besser so, denn es steht groß und breit For Maja drauf, in ihrem neuen Leben könnte es sie verraten.
Mit aller Kraft müht sich Maja, sämtliche Szenen mit Robert Barsch zu überspringen, und das klappt tatsächlich. Stattdessen denkt sie an Lorenzo, und das tut zwar unglaublich weh, aber es ist auch eine Art Gegenmittel, denn Lorenzo hat ihr immer nur gutgetan, eine Zeit lang kam er ihr vor wie eine Impfung gegen alles Schlechte in der Welt.
Maja begegnet einem großen rotblonden Jungen an der Bushaltestelle. Ein Stück weiter liegt das Bein einer Schaufensterpuppe im Gebüsch, sie betrachten es beide neugierig. »Hat wohl versucht, vor der Herbstmode davonzulaufen«, sagt der Junge.
»Geht aber schlecht, wenn einem Teile abfallen«, meint Maja, und sie müssen beide lachen. Sie reden noch ein bisschen, bis Majas Bus kommt – der Junge wartet leider auf einen anderen. Kaum ist sie eingestiegen, ärgert sich Maja über sich selbst. Wieso hat sie ihm nicht ihre Mail-Adresse gegeben? Oder ihn nach seiner
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