Und keiner wird dich kennen
die Feder, die Ohrringe und den Zettel in die Grube.
»Ich werde dich nie vergessen«, flüstert sie – und weiß selbst nicht genau, wen sie damit meint. Das Mädchen Maja? Lorenzo? Ihren Vater?
Vorsichtig drückt Maja die Erde über ihren drei Dingen fest, richtet sich auf und blickt noch einen Moment hinunter, die Hände ineinander verschränkt.
Dann dreht sie sich um und geht mit gleichmäßigen Schritten davon.
TEIL 2
Im Versteck
Aufbruch
Seit Stunden hocken sie schon in diesem weißen Lieferwagen mit dem Logo einer Wäscherei darauf. Wie skurril – wahrscheinlich denken die Menschen, die sie vorbeifahren sehen, hier würden Bündel von Tischdecken oder Laken transportiert. Doch im Inneren sieht es eher aus wie in einem Kleinbus: Maja, Elias und Lila belegen drei der sechs Sitze, die anderen bleiben leer. Dahinter ist noch genug Platz für ihr Gepäck, viel haben sie ja nicht. Fenster gibt es keine, sie spüren nur die Beschleunigung, die Kurven, zu Beginn hin und wieder den Halt an einer Ampel. Selbst beim Zwischenstopp an der Tankstelle bleiben sie drinnen und Andreas kauft Sandwiches für sie.
Mit jedem Kilometer wird Majas Herz leichter. Weg von ihm, weg von ihm , pocht es in ihr. Soll Robert Barsch sich doch totsuchen, sie jedenfalls werden weg sein. In Sicherheit. Hoffentlich verstummt dann auch endlich die Stimme in ihr, die ständig Gefahr, Gefahr! schreit, selbst wenn keine in Sicht ist.
»Wohin fahren wir denn eigentlich?«, erkundigt sich Maja. Sie kann nur hoffen, dass Andreas und seine Kollegen keinen allzu öden Ort für sie ausgesucht haben.
»Nach Bayern«, sagt ihr Betreuer, ohne sich zu ihr umzudrehen.
Nach Bayern! Maja weiß nicht so recht, wie sie das finden soll. Bayern, dazu fallen ihr nur Dirndl und Trachtenjacken, Oktoberfest, Bier und Weißwürste ein. Bier mag sie nicht besonders, zu bitter. Sollte sie anfangen, Bayerisch zu lernen? Sie kann ja nicht mal Hessisch. Aber das ist vermutlich egal. Und es hätte vermutlich auch schlimmer kommen können.
»Maja, wenn du nicht mit mir spielst, zerhaue ich dich mit meinem Laserschwert«, kündigt Elias an und schwenkt eine seiner Power-Ranger-Figuren.
Maja zwingt sich, nicht einmal den Kopf zu wenden.
»Hier gibt’s keine Maja«, sagt Lila schließlich. »Meinst du etwa Alissa?«
»Ja, genau!«, trötet Elias, und Maja lächelt ihm zu. Was soll das nur werden – Elias fällt es immer noch schwer, sich an die neuen Namen zu gewöhnen, zwanzig, dreißig Mal haben sie ihn schon geduldig korrigiert. Vielleicht ist er einfach zu klein für diese ganze Flucht. Aber was hätten sie denn sonst tun sollen?
Und dann hält der Lieferwagen, das gleichmäßige Rumpeln des Motors verstummt, die Seitentür wird aufgeschoben. Neugierig blinzelt Maja ins helle Tageslicht und schaut sich um. Ein Parkplatz an einem Bahndamm. Andreas ist schon dabei, die Koffer auszuladen. Zu Fuß gehen sie den Parkplatz entlang bis zu einem flachen Bahnhofsgebäude, grauer Beton mit rotem DB-Zeichen.
»Ab hier nehmen wir ein Taxi«, sagt Andreas. »Muss ja nicht sein, dass die neuen Nachbarn euch aus einem Wäscherei-Lieferwagen aussteigen sehen.«
Stimmt, daran hat Maja gar nicht gedacht. Vielleicht, weil in ihrem Leben seit zweieinhalb Wochen ohnehin nichts mehr normal ist.
»Gestern haben wir schon einen Umzugswagen hingeschickt und ein paar Möbel ausgeladen«, fährt Andreas fort. »Sieht sonst komisch aus, wenn ihr gar nichts habt.«
»Wir bezahlen Ihnen selbstverständlich ...«, beginnt Lila verlegen, aber Andreas winkt ab. »Alles gebrauchte Sachen, das waren keine großen Unkosten, ich fürchte, Sie müssen sich das meiste noch selbst beschaffen.«
Als sie mit Andreas zu ihrer neuen Wohnung fahren, glotzen Maja und Elias aus dem Taxifenster, um nichts zu verpassen. Es ist eine kleine Stadt, in der sie gelandet sind; sie fahren die Hauptstraße entlang, biegen in einem Kreisel ab und fahren an einem Schlittenberg vorbei, der braun und geschunden aussieht von zu vielen Schlitten und zu wenig Schnee. Dann ein kurzes Stück durch einen Wald und sie sind da.
»Olching«, sagt Andreas. »Genauer gesagt, der Stadtteil Neu-Esting.«
So heißt ihre neue Heimat also. Maja hat noch nie etwas davon gehört. Wo zum Teufel soll das denn sein?
Andreas scheint zu spüren, was sie denkt. »Wir sind etwa dreißig Kilometer westlich von München«, sagt er. »Ich wette, hier fühlt ihr euch wohl. Viel Natur und die Großstadt nicht weit.« Er
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