Und keiner wird dich kennen
Brezel und murmelt irgendetwas davon, dass die total lecker sei und er Bayern cool finde, doch Maja hört ihm nicht zu. Schockiert starrt sie ihre Mutter an. Ihre langen, dunklen Locken sind verschwunden, an ihrer Stelle trägt Lila jetzt einen kurzen hellblonden Bob. O nein, diese herrlichen Locken, was hat sie getan?
»Wir haben ein Einkaufszentrum entdeckt, einen Friseur gibt’s dort auch«, sagt Lila überflüssigerweise.
»Hättest du sie dir nicht einfach färben können, warum musstest du sie abschneiden?«, fragt Maja hilflos.
»Warum? Fragst du das ernsthaft?« Lilas Augen blitzen gefährlich. »Weil mich Hunderte von Leuten als Frau mit Lockenmähne kennen, darum! Und du legst dir bitte auch eine andere Frisur zu! Stell dir nur vor, dich fotografiert jemand, solange du dich noch nicht verändert hast, und stellt das zusammen mit deinem neuen Namen ins Netz ...«
»Dann wäre es wahrscheinlich am besten, ich lasse mir gleich noch die Nase operieren«, ätzt Maja zurück. »Meine alten Freunde erkennen mich nämlich auch mit neuer Frisur.«
»Was ist denn auf einmal mit dir los?« Ihre Mutter betrachtet sie mit zusammengekniffenen Augen. Sie kramt in ihren Einkaufstüten, bringt eine Packung zum Vorschein. »Hier. Hab ich dir mitgebracht. Würde dir gut stehen.«
Eine Tönung. Vorne auf der Packung ein Model mit wallender kupferfarbener Mähne, digital nachbearbeitet bis zum Abwinken. Die Farbe erinnert Maja an Lorenzo und ein heftiger Stich Sehnsucht nach ihm durchfährt sie. Am liebsten würde Maja das Zeug auf den Tisch schleudern, aber sie tut es nicht. Im Grunde hat ihre Mutter natürlich recht. Sie muss Alissa werden, mit Herz und Kopf, mit Haut und Haaren. Hat Alissa rote Haare?
Draußen regnet es jetzt stärker. Die Bäume vor dem Fenster sehen aus wie Brennholz und der Himmel hat die Farbe von Beton. Wie kann eine Welt ohne Lorenzo etwas anderes als grau sein?
Exil. Das hier fühlt sich an wie ein Exil. Und das ist es ja auch.
Als die Mail zurückkommt, kann Lorenzo es erst nicht glauben. Er starrt auf den Bildschirm und versucht zu begreifen. Wie kann das sein ... er hat Maja doch schon Mails geschrieben, die offenbar angekommen sind, auch wenn sie nicht geantwortet hat. Und jetzt das – was hat das zu bedeuten? Rasch wechselt er zu Facebook. Zehn Mal am Tag hat er in letzter Zeit auf Majas Seite geschaut, doch seit über zwei Wochen herrscht dort Grabesruhe.
Lorenzo versucht, ihre Seite aufzurufen. Und bekommt nur ein Für deinen Suchbegriff wurden keine Ergebnisse gefunden . Das kann nicht sein. DAS KANN NICHT SEIN! Sie muss ihren Account gelöscht haben. Aber wer macht denn so was? Ein eisiger Schauer rieselt durch seinen Körper. Ist sie womöglich ... tot? Nein, nein, dann hätte es bestimmt eine Memorial-Seite gegeben.
Apathisch lässt er sich auf sein Bett fallen, all seine Energie ist weg. Seit Maja nicht mehr da ist, kommt er sich vor wie eine Comicfigur mit einem riesigen Loch im Torso, durch das man die Landschaft auf der anderen Seite sehen kann. Hohl. Ausgehöhlt. Wie soll er es schaffen, so zu leben?
Seine Nonna ruft ihn zum Essen; am Dienstag hat seine Mutter immer ihren Kendo-Kurs und stattdessen kocht Oma. Kaninchen in Rotweinsoße. Gut gelaunt säbelt sein Vater an einem Schenkel herum, doch Lorenzo hat keinen Appetit. Schon an gewöhnlichen Tagen hat er wenig Lust darauf, niedliche Pelztiere zu essen, das versteht Nonna einfach nicht – sie ist auf einem Landgut aufgewachsen und gewohnt, besagten Pelztieren den Hals herumzudrehen.
»Lorenzo! Warum isst du nicht, ragazzo ?«
»Ich glaube, ich brüte irgendetwas aus«, murmelt Lorenzo und stützt den Kopf in die Hände.
»Ausbrüten? Ein Ei?« Nonna furcht die Brauen. »Sei nicht albern und iss dein coniglio !«
»Das sagt man, wenn man krank wird, mama «, versucht sein Vater behutsam zu vermitteln. »Der Junge fühlt sich nicht gut, schau doch, er ist ganz blass.«
»Ach was, ist wohl zu lange aufgeblieben letzte Nacht mit seinen Fotos«, brummt Nonna und wirft giftige Blicke auf Lorenzos unberührten Teller.
»Seine Freundin ist verschwunden«, sagt sein Vater. »Seit zwei Wochen schon, ich habe dir das doch erzählt, erinnerst du dich nicht?«
»Ach, das Mädchen!«
Bevor sie noch mehr sagen kann, schiebt Lorenzo heftig seinen Stuhl zurück und steht auf. Er weiß, dass manche in seiner Familie nicht einverstanden waren mit Maja – der Gedanke ist unerträglich, dass sie nun insgeheim froh sind
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