Und keiner wird dich kennen
wieder durchs Wohnzimmer. Seltsam, dass man sich einsam fühlen kann, wenn so viele Leute einen umgeben. Die Sehnsucht nach Lorenzo, nach ihren alten Freunden schnürt ihr die Luft ab. Sie muss jetzt dringend ein paar Songs durchtanzen, um diese Traurigkeit abzuschütteln, sonst kann sie auch gleich nach Hause gehen.
Im Keller zucken bunte Lichter und eine Discokugel glitzert an der Decke. An eine der Wände projiziert ein Computer fließende Muster zur Musik. Vier oder fünf Leute – darunter Korbinian – zappeln herum, ein paar andere hocken auf dem Boden und schauen zu, einer drückt auf einem Videospiel herum.
Maja erkennt einen Song und lässt sich in den Rhythmus gleiten, versucht, alle Gedanken abzustellen und einfach da zu sein. Jetzt. Hier. Doch es funktioniert nicht besonders gut. »I am Titanium«, schrillt die Sängerin, wie eine Kreissäge schneidet ihre Stimme in Majas Hirn, und der Beat drängt sich ihr auf, ohne sie mitzunehmen. Es funktioniert nicht und das liegt an ihr.
Müde steigt Maja hoch ins Erdgeschoss und versucht sich damit abzufinden, dass die Nacht für sie wohl doch vor dem Fernseher enden wird. Doch im Wohnzimmer fängt die Party erst richtig an, schon wieder klingelt es an der Tür, noch immer kommen neue Leute an.
Johanna läuft ihr über den Weg. »Host Spaß?«, fragt sie und strahlt Maja an. Maja gibt irgendein Geräusch von sich, das Ja oder Nein bedeuten kann.
Dann blickt sie erstaunt auf. Ein Junge, den Maja nicht kennt, hat gerade angefangen, mit einem Löffel auf einen Topfdeckel einzuschlagen. »Es ist so weit – die Flugprüfung beginnt!«, ruft er, und im Wohnzimmer wird es noch voller.
Die anderen scheinen zu wissen, worum es geht, denn einige sammeln sich in der Mitte des Wohnzimmers, wo jetzt auch Ben steht, die anderen bilden eine runde Menschenkette, indem sie die Arme ineinander verhaken. Auf einmal ist Maja Teil dieser Kette, die sich jetzt auf den Ruf »Und Action bitte!« vor und zurück bewegt. Manche Gäste sind schon nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, ein Mädchen fällt kichernd hin, kommt aber gar nicht erst auf dem Boden auf, weil die Kette sie gleich wieder hochzieht. Während die Kette vor sich hin schwankt, heben ein paar Jungs Ben an Armen und Beinen hoch und reichen ihn durch wie einen Stagediver bei einem Rockkonzert. Jetzt werfen sie ihn sogar hoch, einmal, zweimal, dreimal, beim letzten Mal rutscht Ben in Richtung Boden und brüllt irgendetwas, doch zehn, zwanzig Hände fangen ihn auf und befördern ihn wieder nach oben.
»Flugprüfung auch in diesem Jahr bestanden«, ruft der Zeremonienmeister. Ben wird wieder heruntergelassen und bekommt stattdessen einen Sekt über den Kopf. Seine tropfnassen Haare hängen ihm in die Augen, aber er grinst trotzdem breit und zeigt das Victory-Zeichen. Maja kreischt und lacht mit den anderen, es macht solchen Spaß, richtig aufzudrehen.
Blitzlichter beleuchten den nassen Ben, alle haben ihre Handys gezückt und schießen Fotos. Wahrscheinlich fotografieren sie schon die ganze Zeit. Bei dem Gedanken daran ist Maja auf einen Schlag wieder nüchtern. Sie fotografieren!
Und garantiert stehen die Fotos am nächsten Tag bei Facebook und in irgendwelchen Blogs. Wo irgendjemand sie auf dem Bild markieren könnte, ohne dass sie es verhindern oder verbieten kann. Das darf nicht passieren! Hastig dreht Maja das Gesicht weg, damit sie auf diesen Fotos nicht drauf ist. Wieder ein Blitzlicht. Und wieder. Maja löst sich aus der Menge, stolpert zur Seite. »He, was ist denn?«, fragt jemand verständnislos.
Vom frisch getauften Ben gibt es anscheinend genug Bilder, jetzt knipsen mehrere Leute andere Freunde und halten die Kamera in die Menge. Ach du Scheiße. Maja versucht, sich in Richtung Klo zu flüchten, sie prallt gegen einen weichen Körper, wieder sagt jemand »He!«. Maja stolpert, streckt Halt suchend die Hände aus, tritt irgendjemandem auf den Fuß.
»Alissa?«, ruft eine Stimme, aber Maja ist so durcheinander, dass sie erst gar nicht reagiert. Erst ein paar Sekunden später wird ihr klar, dass sie gerade einen Fehler gemacht hat. Alissa – damit ist sie gemeint! Sie blickt sich um, merkt, dass Ben sie gerufen hat. Verständnislos und besorgt sieht er sie an.
»Ich ... bin ziemlich fotoscheu«, versucht Maja atemlos zu erklären, o Gott, wie schrecklich peinlich das alles ist, und jetzt halten ein paar Mädchen erst recht auf sie und Ben drauf, versuchen, sie wohl beide auf ein Bild zu kriegen.
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