Und keiner wird dich kennen
Hilflos dreht Maja das Gesicht weg, können die nicht einfach aufhören, wieso hören die nicht auf?
»Also ehrlich, ich verstehe das nicht so ganz«, sagt Ben kopfschüttelnd. »Was ist denn dabei, wenn dich jemand ...«
»Scheiße, habt ihr das nicht gehört, ihr Deppen? Sie mag nicht fotografiert werden!«, herrscht plötzlich eine andere Stimme die Mädchen an, und die Blitzlichter hören auf.
Diese Stimme kommt Maja bekannt vor, aber das kann doch nicht sein, oder?
Ganz langsam wagt sie, sich wieder umzuwenden.
Doch. Sie ist es tatsächlich. Stella, die gerade aussieht wie eine wütende Bulldogge, steht direkt vor ihr. Es ist Stella, die sie verteidigt hat. Und die Leute hören auf sie – einige stecken verlegen ihre Handys weg, andere knipsen jetzt in eine andere Richtung.
Maja ist noch verwirrter. Wo kommt Stella denn auf einmal her? War sie überhaupt eingeladen? Sind sie und Ben doch befreundet? »Danke«, stößt sie hervor, und Stella grinst sie an. »No problem.«
»Komm, wir tanzen«, sagt der durchtränkte Ben und zieht Maja übermütig an der Hand davon, hinunter in den Keller mit den blitzenden Lichtern.
Lorenzos Finger umschließen die Kamera, sie ist ein vertrautes Gewicht in seiner Hand. Gut fühlt es sich an, sie jetzt nach drei Wochen zum ersten Mal wieder zu benutzen. Völlig konzentriert visiert er das Motiv an, nichts anderes hat in seinem Kopf mehr Platz. Er drückt den Auslöser, kontrolliert kurz das Bild, verändert seine Position, drückt noch einmal ab und noch mal. Klettert schließlich auf einen dieser grauen Stromkästen, um das Ganze aus einer neuen Perspektive aufzunehmen. Ja, das sieht gut aus. Sein Herz klopft, als er die Fotos betrachtet. Seine erste Botschaft. Wird sie sie finden? Wird sie sie verstehen?
Auf den Bürgersteig hat er in roter Kreide ein Datum geschrieben: 5.6.
Fünfter Juni. Der Tag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet sind.
Er hat beschlossen, Maja auf seine Weise zu suchen. Das mit dem Detektiv war ein Fehler. Leute wie dieser Nikisch stempeln seine Suche einfach als »jugendlichen Liebeskummer« ab und nehmen sie nicht ernst. Ab jetzt wird er seinen eigenen Weg gehen, ganz seinem Instinkt folgen. Auf gut Glück Botschaften im Internet hinterlassen und darauf hoffen, dass sie sie irgendwann findet. Nur Maja kann sie verstehen, niemand sonst. Und wenn sie eine dieser wortlosen Botschaften findet, hat sie die Wahl, ob sie sich meldet oder nicht.
Er kann nur hoffen, dass sie es tun wird.
Fliegende Tomaten
Als die Uhr halb eins zeigt, macht sich Maja bereit zum Aufbruch, umarmt Ben zum Abschied, winkt Johanna zu und schlüpft in ihre Jacke. Lila hat ihr Geld für ein Taxi gegeben, aber eigentlich ist es ihr peinlich, für diese kurze Strecke – es ist weniger als ein Kilometer – einen Wagen zu rufen. Der Fahrer wird denken, sie habe sie nicht mehr alle. Andererseits verkrampft sich ihr Magen beim Gedanken daran, durch die nächtlichen Straßen nach Hause zu gehen. Früher, als Kind, hatte sie nie Angst im Dunkeln, sie fühlte sich wohl, irgendwie geborgen. Das war, bevor sie herausfand, was in der Dunkelheit lauern kann.
Auf einmal steht Stella im Flur. »Du musst los?«, fragt sie, und Maja nickt.
»Ich auch«, sagt Stella plötzlich und setzt sich auf den Boden, um in ihre Schuhe zu schlüpfen. »Wo wohnst du? Vielleicht können wir ein Stück zusammen gehen.«
»Estostraße«, sagt Maja zögernd, will erklären, dass sie sich eigentlich ein Taxi rufen sollte. Aber Stella nickt schon und sagt: »Prima. Liegt genau auf meinem Weg.«
Zu zweit ist es vermutlich nicht gefährlich. Mit gemischten Gefühlen wartet Maja, bis Stella sich in ihre Winterjacke mit Fake-Pelzkragen hineingezippt hat. Während sie die Straße entlanggehen, verspannt sich Maja unwillkürlich, schaut sich immer wieder um – eine blöde Angewohnheit. Als sie in ihrer alten Schule mit ein paar Leuten abends unterwegs war, hat einer von denen gesagt, sie solle doch mal lockerer werden. Bescheuerter Spruch. Nichts würde sich Maja mehr wünschen, als vollkommen relaxed zu sein, und stattdessen fühlen sich ihre Schultermuskeln schon jetzt, nach hundert Metern, hart wie Holz an. Verkrampft vor Angst. Robert Barsch ist nicht hier, er ist nicht hier, er weiß nicht, wo wir sind . Sie kann es sich tausendmal sagen und der Effekt ist gleich null.
Stella schweigt, wirft ihr nur einen fragenden Blick zu.
»Ist Ben jetzt eigentlich ein Aufreißer-Typ oder nicht?«, fragt
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