Und keiner wird dich kennen
hebt das Gesicht und atmet tief ein. Ja. Lila war hier. Er kann es spüren.
»Welche Heizkörper müssen Sie denn noch überprüfen?«, fragt die alte Frau.
»Nur die im Obergeschoss«, sagt er und folgt ihr die Treppe hinauf, sieht sich in den Zimmern um. »Hier hat vor Kurzem jemand gewohnt, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie das?« Die Alte ist verblüfft.
»Ach, das sieht man an den Verbrauchswerten.« Beinahe muss Robert grinsen. Die meisten Leute sind so unglaublich naiv! »Es waren mehrere Personen, richtig?«
Doch jetzt wirkt sie leider ein klein wenig misstrauisch. »Was interessiert Sie das?«, motzt sie, ohne auf seine Frage einzugehen.
»Als Heizungsmonteur muss man eben so manches tun, was den Leuten erst mal nicht einleuchtet«, gibt Robert gereizt zurück.
»Na, hätten Sie mal was Gescheites gelernt!«, meint die Alte und gackert, als hätte sie einen Witz gemacht.
Heiße, bittere Wut quillt in ihm hoch. Was fällt dieser alten Schachtel mit dem Riesenbusen ein? Hätten Sie mal was Gescheites gelernt! Ja, herzlichen Dank, diesen Spruch kennt er. So ähnlich hatten das seine Eltern auch ausgedrückt, als Robert die unerträgliche kaufmännische Lehre hingeworfen und als Wachmann bei einem Sicherheitsdienst angefangen hatte. Auch später: nichts als Hohn und Spott. Die Aufträge als Programmierer, seine Erfolge als freiberuflicher Berater? Zählten einfach nicht. Du nennst dich IT-Consultant und hast nicht mal studiert? Was ist, wenn deine Kunden das merken? Hättest du mal was Gescheites gelernt!
Robert muss sich wegdrehen, damit die Alte den Hass in seinem Gesicht nicht bemerkt. Er überprüft, ob im Zimmer mit dem Bett noch irgendwelche Spuren zu finden sind, schaut in alle Ecken, bückt sich, um unters Bett blicken zu können ... und wird fündig. Während die alte Schachtel noch »Sagen Sie mal, was machen Sie da eigentlich?« von sich gibt, zieht er die einzelne Spielkarte vorsichtig hervor. Kinder-UNO. Lila und ihre Kinder haben hier gesessen und UNO gespielt.
Empört blickt die alte Schachtel ebenfalls unters Bett und murmelt vor sich hin: »Wirklich die Höhe, nicht mal richtig aufgeräumt haben die, das war wohl zu viel Arbeit ...«
Robert richtet sich wieder auf, sieht aus dem Fenster und genießt den Gedanken, dass Lila noch vor kurzer Zeit genau den gleichen welken Rasen, die gleichen hässlichen Ziersträucher gesehen hat. Bestimmt hat sie dabei nach ihm Ausschau gehalten, ja, ganz bestimmt.
Sie ist unvorsichtig. Sie hinterlässt Spuren. Das heißt, er kann sie finden. Und dann wird wieder alles gut. Er wird sie überzeugen, dass sie zu ihm zurückkommt. Und diese alte Schachtel soll büßen dafür, dass sie ihn gedemütigt hat. Auf dem Weg nach draußen lenkt er sie ab, geht rasch in die Küche und dreht am Herd das Gas auf. Wenn sie das merkt, ist es vermutlich schon zu spät. Recht geschieht es ihr!
Schräge Schwestern
Lorenzo und sie sind auf einer kleinen Insel gestrandet. Es ist so herrlich dort! Ein warmer Wind streicht über Majas Haut, und immer wieder zieht Lorenzo sie an sich, um sie zu küssen. Sie klettern auf Palmen, um sich Kokosnüsse herunterzuholen. Nervig ist nur, dass ständig riesige Frachter ganz nah an der Insel vorbeifahren, einer versucht sogar, am Strand anzulegen – ist der Kapitän total durchgedreht? »Das darf der Typ nicht!«, schreit Lorenzo und versucht, das riesige Schiff mit den Händen wegzuschieben, aber er schafft es nicht, er schafft es nicht …
Majas Kissen ist tränennass. In ihren Träumen ist Lorenzo fast immer dabei, vielleicht wird sie ihn noch jahrelang in dieser Nachtwelt treffen, so tief ist er in ihrer Seele verankert. Sie vermisst ihn so schrecklich. Leise wie eine Katze, mit bloßen Füßen, steht sie auf und geht am schlafenden Elias vorbei zum Kleiderschrank. Sie hat Lorenzos Foto – das einzige, das sie noch besitzt – in Klarsichtfolie eingehüllt und tief unter ihren Pullovern versteckt. Heiter blicken seine grünen Augen sie an, und sie muss an sein Lachen denken, das sie immer an ein Auto mit kaputtem Anlasser erinnert hat. Niemand hat eine so schreckliche Lache und so viele Sommersprossen wie er. Ob er schon eine neue Freundin hat? Es gab einige Mädchen aus ihrer Stufe, die hinter ihm her waren und sich jetzt bestimmt an ihn rangeschmissen haben. Ist er schon dabei, sie – Maja – zu vergessen? Es wäre besser für ihn, wenn er das täte, und doch reißt der Gedanke Majas Herz in Fetzen.
In der Schule
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