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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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ihres dubiosen Besuchers akzeptiert.
    In einem Landrover hatte man
Morse zum Entsorgungsgebiet gefahren, wo die Laster — ein endloser Zug aus ganz
Oxfordshire — das Teleskopgestänge ihrer Containerladungen auf einen
Fünfundvierzig-Grad-Winkel anhoben, dabei langsam ihren Inhalt abkippten, sich
ruckartig vorwärts bewegten, um die Container vollständig zu leeren, und dabei
eine Spur der gerade entsorgten Abfallsorte hinterließen. Während Morse diesen
Vorgang ziemlich deprimiert beobachtete, stellte er sich einen über der Deponie
kreisenden Hubschrauber vor, dem jeder Müllwagen wie ein Malerpinsel und die
allmählich breiter werdende vielfarbige Abfallspur wie ein über die Landschaft
gezogener Pinselstrich erscheinen mochte. Sehr rasch aber akzeptierte Morse die
tatsächliche Situation, die sehr viel prosaischer war: Die Fahrer selbst kamen
selten oder nie dazu, einen Blick auf den Inhalt der Ladung zu werfen, die sie
abkippten, geschweige denn sie zu untersuchen. Dann sprach er seine Überlegung
laut aus. «Wenn ein Fahrer eine Leiche abkippen würde... ich meine, das würde
er kaum merken, was?»
    Colin Rice, der Betriebsleiter,
zögerte einen Augenblick — nicht, weil er auch nur den leisesten Zweifel an der
Antwort gehabt hätte, sondern weil es ihm Leid tat, seinen melancholischen
Fragesteller enttäuschen zu müssen. «Nein.»
    «Wie viele Pressmüllcontainer
kommen täglich aus Redbridge?»
    «Je nachdem.»
    «Heute?»
    «Vier oder fünf. Ich könnte
nachsehen.»
    «Nein, nicht nötig.»
    Morse sah den gelb lackierten
Bomag-Raupen zu, die ihr trauriges Geschäft wieder aufgenommen hatten. Mit den
stählernen Gliedern ihrer gewaltigen Ketten pressten sie die frisch abgekippten
Haufen zusammen und schoben dann mit einem schneepflugähnlichen Vorsatz den
eingeebneten Müll seinem letzten Ruheplatz entgegen.
    Morse schwieg. Wenn man die
Augen halb schloss, ähnelten die Müllberge fast einem wundersam gewebten
vielfarbigen Quilt, in dem zwischen dem vorherrschenden Schwarz und Weiß blaue,
rote und gelbe Farbtupfer aufleuchteten.
    «Wenn jemand was gesehen
hätte», sagte Rice schließlich, «wären es die Jungs auf den Planierraupen. Die
gucken nach vorn, auf all den Müll. Der normale Lastwagenfahrer schaut sich
kaum mal um.»
    «Die Stelle, wo die Ladungen
aus Redbridge gelandet sind, könnten Sie mir die...?»
    Der Betriebsleiter schüttelte
den Kopf. «Nichts zu machen.»
    «Und wenn Sie genug Personal
hätten?»
    «Wie viel Mann?»
    «Fünf oder sechs?»
    «Bei fünf- oder sechshundert
ließe sich drüber reden.»
    Morse gab den ungleichen Kampf
auf. Er trat ein Loch in einen der herumliegenden schwarzen Plastiksäcke und
warf einen kurzen Blick auf die Ekel erregende Mischung aus Spaghetti und
Tomatensoße, die wie die Eingeweide eines überfahrenen Karnickels daraus
hervorquoll.
    «Bleiben Sie ruhig noch, wenn
Sie wollen», sagte Rice ohne Begeisterung. «Man kann nie wissen. Neulich ist
mal eine Ladung nagelneuer Kameras hier gelandet.»
    «Ich habe nie einen Fotoapparat
besessen», gestand Morse. «Hoffentlich haben Sie sich einen geschnappt.»
    Rice lächelte nachsichtig. «Sie
kennen offenbar unsere Spielregeln nicht...»
    Morse hob den Kopf und sah zu
den gewaltigen Kühltürmen des Kraftwerks Didcot hinüber, das nur ein paar
hundert Meter weiter über der Landschaft wachte.
    «Nein, das stimmt», sagte er
leise.
    Als er über die A34 nach Oxford
zurückfuhr, kamen ihm Zweifel, ob er sich bei dem Leiter der Deponie Greenways
herzlich genug bedankt hatte. Er galt ja, wie er nur zu gut wusste, nicht
gerade als jemand, von dem man große Dankesbezeigungen erwarten durfte. Er
hatte sogar — und zwar ziemlich barsch — das freundliche Anerbieten von Rice
abgelehnt, allen Mitarbeitern der Deponie eine Aktennotiz zukommen zu lassen,
um sie mit der Situation vertraut zu machen.
    Andererseits war Morse nicht
allzu sehr zur Selbstkritik geneigt, da er ja wusste, dass es keine «Situation»
gab. Diese Überzeugung, in der er gerade erst wieder bestärkt worden war,
wiederholte er sich jetzt, während er das Radio anstellte und wieder einmal dem
langsamen Satz von Bruckners Siebenter lauschte.
     
    Ein sehr vergnügter und
selbstsicherer Lewis kam am späten Nachmittag ins Präsidium zurück. Bei fast
allen früheren Fällen hatte er, wenn er zur First Base kam, gewöhnlich Morse
bereits zur Second Base sprinten sehen und so immer weiter um das ganze
Baseballfeld herum. Heute nun gedachte er selbst

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