Und kurz ist unser Leben
man nicht gefunden, überall nur Blut, Blut,
Blut. Und natürlich viele — viel zu viele! — Fingerabdrücke, nebeneinander und
übereinander, auf allen freien Flächen. Der Wagen des Besitzers, ein schnelles,
ganz neues Modell, hatte jederzeit auch seiner zweiten Frau und seinen drei
Stiefkindern zur Verfügung gestanden, und das Sichten der vielen Fingerabdrücke
würde seine Zeit dauern. Noch langwieriger konnte sich die Untersuchung der
Haare und Fasern durch die Gerichtstechnik gestalten, die die Kollegen der
Spurensicherung mit Klebestreifen von jedem Quadratzentimeter der
Wagenpolsterung abgenommen hatten.
Ungeachtet so vieler
potenzieller Spuren zweifelte Morse (und sah sich darin mit Dr. Laura Hobson
einig) erheblich an ihrem tatsächlichen Wert. Zu viele Köche verderben den
Brei, zu viele Ganoven können einem leicht eine Ermittlung verderben. Zurzeit
war Warten angesagt. Und dieser Beschäftigung gab sich Morse gerade im
Wartezimmer des Radcliffe hin.
Am Vortag, dem Sonntag, war
Morse ziemlich plötzlich die Aufstellung seiner Blutzuckerwerte eingefallen,
nach der man ihm am nächsten Tag im Diabeteszentrum fragen würde. Er hatte
deshalb an diesem Tag gleich viermal gemessen: 12,2; 9,9; 22,6; 16,4. Dass er
keine Chance hatte, auch nur in die Nähe des Normalbereichs von 4 bis 5 zu
kommen, wusste er natürlich, trotzdem beunruhigten ihn die Ergebnisse etwas,
weshalb er den hohen dritten Wert sofort halbierte. Diese Werte hatte er
möglichst überzeugend für die vergangenen sechs Tage rückwärts extrapoliert. So
lag jetzt ein leidlich zufrieden stellendes Resultat, in seiner kleinen
sauberen Schrift übersichtlich in Tabellenform gebracht, gefalzt in der blauen
Karte, auf der die Termine für seine Untersuchungen vermerkt waren.
Er war bereit.
Auch eine «Probe» hatte er
glücklich zustande gebracht, wenn auch — aufgrund einer gewissen
Zielunsicherheit — unter Hinterlassung einer Pfütze auf dem Boden des
Unisex-Klos, und der gefürchtete Gang auf die Waage lag ebenfalls hinter ihm.
Ebenso wie das Warten.
«Mr. Morse?»
Die schlanke, hübsche, weiß
bekittelte Brünette ging voraus. An der Sprechzimmertür stand in schwarzen
Buchstaben auf einer weißen Karte ihr Name: DR. SARAH HARRISON.
«Sie kannten meine Mutter flüchtig,
glaube ich», sagte sie und schlug einen hellbraunen Aktendeckel auf.
Morse nickte, enthielt sich
aber jeden Kommentars.
Binnen einer Viertelstunde war
die medizinische Seite abgehandelt. Morse hatte sich gar nicht erst an
Winkelzügen versucht, sondern kurz und einigermaßen ehrlich geantwortet.
«Sind diese Werte echt?»
«Zum Teil schon.»
«Sie könnten zehn, fünfzehn
Kilo abnehmen.»
«Sehr richtig.»
«Aber das werden Sie nicht
schaffen.»
«Schon möglich.»
«Wie läuft es mit dem Alkohol?»
«Ein bisschen zu schnell.»
«Es geht um Ihre Leber.»
«Ja.»
«Probleme mit dem Sex?»
«Seit ich denken kann.»
«Sie wissen, wie ich es meine.
Sexualtrieb...?»
«Ich bin Junggeselle.»
«Was hat das damit zu tun?»
«Ich lebe ziemlich zölibatär.»
«Ich werde dafür bezahlt,
solche Fragen zu stellen, das ist Ihnen hoffentlich klar.»
Aus den dunkelbraunen Augen
wich der Zorn, als sie seine Füße und dann seine Augen ansah. Die Unterredung
war praktisch beendet, als eine Krankenschwester meldete, in der Ambulanz sei
gerade jemand in Ohnmacht gefallen, und da im Augenblick Dr. Harrison die
einzig greifbare Ärztin sei...
Sie war kaum draußen, als Morse
rasch zum Schreibtisch ging und seine Akte öffnete. Obenauf lag ein kurzer
handschriftlicher Vermerk:
«Lassen Sie sich nicht ins
Bockshorn jagen, Sarah! Er ist ungeheuer sparsam mit der Wahrheit, aber im
Grunde seines Herzens ein Softie, glaube ich. Robert.»
Darunter lag die Kopie eines
Schreibens («Streng vertraulich!») an das Ärztezentrum Summertown vom 18. Mai
1998.
Betr.:
Jahresuntersuchung E. Morse
Lieber
Dr. Robin,
Hämoglobin
A lc ist (wie Sie sehen werden) mit 11,5 % höher, als uns lieb sein kann. Ich
habe ihm gesagt, er soll seine vier täglichen Injektionen um zwei Einheiten auf
10, 6, 12, 36 erhöhen. Der Cholesterinspiegel ist mittlerweile Besorgnis
erregend hoch. Es hat keinen Zweck, ihm zu sagen, er solle seine Alkoholzufuhr
einschränken. Ich empfehle die Verschreibung von Atorvastatin 10 mg nocte.
Augen
erstaunlich gut, Blutdruck nach wie vor zu hoch. Keine Probleme mit den Füßen.
Der
Allgemeinzustand gibt mir keinen Anlass zu unmittelbarer Besorgnis, aber
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