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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Tempobereich blieb. Zwei Köpfe
sind besser als einer, auch wenn der zweite Lewis gehört... Schäbig, solche
Überlegungen, wies er sich sofort zurecht, zumal Lewis sie wahrlich nicht
verdient hatte.
    «Mr. Morse?»
    Eine Krankenschwester bat ihn
hinter den Vorhang, und während sie mit einem Wattebausch seine rechte Armbeuge
keimfrei machte, um die Nadel darin zu versenken, ertappte sich Morse bei der
Frage, was wohl Sarah Harrison in diesem Moment dachte oder tat.
    «Hallo? Simon Harrison hier.»
    «Simon? Hier Sarah. Kannst du
mich hören?»
    «Was soll ich schwören?»
    «Verstehst du mich?»
    «Wie? Ja, natürlich. Toll,
dieses neue Telefonsystem.»
    «Bist du allein, Simon?»,
fragte sie leise.
    «Ja, aber man kann sich nie
darauf verlassen, Schwesterlein.»
    «Hör bitte genau zu, ich habe
nur eine Minute Zeit. Ich habe gerade mit Chief Inspector Morse gesprochen...»
    «Mit wem?»
    «Morse von der Thames Valley
Police, er ist einer meiner Patienten.»
    «Bei dem Mord an Mum war er
nicht eingeschaltet.»
    «Aber bei diesem neuen Fall
schon.»
    «Ja und?»
    «Und deshalb müssen wir
vorsichtig sein, Simon.»
    «Hast du ihm gesagt, dass Dad
hier war?»
    «Ja, er hätte es sonst sehr
schnell auf eigene Faust rausgekriegt.»
    «Was ist denn los mit dir,
Sis?»
    «Nichts ist los. Ich habe ein
bisschen Angst vor ihm, und wenn er zu dir kommt...»
    «Wenn ihm was nicht bekommt?
Versteh ich nicht...»
    «Wenn er zu dir kommt, Simon,
warst du am Mittwoch nicht bei mir. Du warst nicht ...»
    «Schon gut, schrei doch nicht
so. Ich war zu Hause und habe Fernsehen geguckt. Was gab’s übrigens?»
    «Schau in die
Fernsehzeitschrift. Und hör auf...»
    Als es klopfte, legte Sarah
rasch auf und hoffte fast, in der Ambulanz wäre der nächste Patient umgekippt.
Doch dem Klopfen folgte nur der höfliche Hinweis, dass Dr. Harrison mit ihren
Vormittagsterminen jetzt über eine halbe Stunde im Rückstand war.
    Doch während der nächste
Patient hereingebeten wurde, ertappte sich Dr. Sarah Harrison bei der Frage,
was wohl Chief Inspector Morse in diesem Moment dachte oder tat.
     
     
    Morse wandte sich vor dem
Krankenhaus nach rechts und ging langsam die St. Giles Street hinauf. Es war 10
Uhr 40. Noch zwanzig Minuten bis zur Öffnung der Pubs. Da er aber den Alkohol
jetzt endgültig gestrichen hatte, war diese Feststellung nicht weiter von
Belang.
    Zu seiner Rechten war das
Oratory, dem er bisher kaum Beachtung geschenkt hatte, obgleich er so oft daran
vorbeigegangen war. Aber abgesehen von jener herrlichen Kette von Kathedralen
in Englands Osten — Durham, York, Lincoln, Peterborough, Ely —, hatte Morse der
kirchlichen Baukunst nie jene Bedeutung beigemessen, die ihr wohl eigentlich
zukam, und warum er jetzt den Schritt verhielt, war unerfindlich.
    Er trat ein und sah sich um:
erstaunlich groß und beeindruckend, dieser Bau mit seinem leisen,
verführerischen Weihrauchduft. Um ihn herum Standbilder der verschiedensten
Heiligen mit Reihen brennender Kerzen vor den heiligen Füßen, die in Sandalen
steckten.
    Hinter ihm war eine jüngere
Frau hereingekommen, die in der linken Hand eine Marks
& Spencer-Einkaufstüte hatte. Sie tauchte flüchtig die Hand in das
kleine Weihwasserbecken, bekreuzigte sich und kniete in einer der hinteren
Bänke nieder. Morse beneidete sie, weil sie sich hier so offenkundig zu Hause
fühlte. Sie sah aus, als ob sie den lieben Gott genauso gut kannte wie sich
selbst und mit dem ganzen Brimborium von Gebeten und Vergebung voll vertraut
war. Sie blieb nicht lange, vermutlich, sagte sich Morse, weil sie so wenig
Sünden begangen hatte, die des Beichtens wert gewesen wären. Als sie an ihm
vorbeiging, sah Morse, dass sie braunes Brot und eine Flasche billigen Rotwein
in der Einkaufstüte hatte.
    Brot und Wein.
    Die Tür schloss sich klickend
hinter ihr, und Morse machte dem heiligen Antonius seine Aufwartung. Wie einem
Text am Sockel der Statue zu entnehmen war, konnte dieser große und gute Mann
für einigermaßen gläubige Menschen ganz unglaubliche Wunder vollbringen. Morse
nahm aus der Schachtel, die dort stand, eine Kerze und steckte sie in eine
leere Halterung in der obersten Reihe. Die meisten Kirchenbesucher hätten wohl
jetzt ein Wunder erfleht. Morse wusste nicht recht, für welches Wunder er sich
entscheiden sollte. Trotzdem war ihm die lange, schlanke Kerze wichtig, und
einem spontanen, nahezu irrationalen Einfall folgend nahm er eine zweite und
befestigte sie neben der ersten. Gemeinsam

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