Und kurz ist unser Leben
Speisekarte aus
der Hand und stand langsam auf. «Entschuldigt mich einen Augenblick, ich will
nur rasch...»
Auf dem Weg zur Damentoilette
blieb sie am Empfang stehen.
«Kann ich von hier aus einen
Gast anrufen?»
«Ja, natürlich.» Die
Empfangsdame lächelte. «Sie brauchen nur die Zimmernummer zu wählen.» Sie
deutete auf den Apparat.
«Der Name ist Harrison — F.
Harrison.»
Die junge Frau tippte den Namen
ein und sah auf ihren Monitor.
«Ja, das stimmt.»
«Könnten Sie mir die
Zimmernummer geben?»
«Tut mir Leid, in unserem Hause
ist das nicht üblich.»
«Was soll das Getue? Ich bin
seine Tochter.»
«Einen Augenblick bitte.» Die
Empfangsdame wandte sich um und wählte ungesehen eine Nummer. «Bitte sehr.»
Sarah hörte das Freizeichen.
Sie überlegte krampfhaft, was sie sagen sollte, aber die Frage erübrigte sich.
«Hallohoh...» Eine dunkle
weibliche Stimme mit transatlantischem Tonfall.
Sarah legte rasch auf. Ihre
Augen funkelten zornig.
Als sie wieder an den Tisch
kam, waren Vater und Bruder in ein ernsthaftes Gespräch vertieft, das sie jetzt
unterbrachen. Weil sie zurückgekommen war? Oder weil zur gleichen Zeit das
Essen serviert wurde? Die Fragen blieben offen.
Das Essen wurde genussvoll
vertilgt, die Tischgespräche waren belanglos, der Pegel der Rotweinflasche sank
bemerkenswert rasch und stand sehr bald auf null.
«Noch eine, Dad?», fragte
Simon.
«Nein.»
«Ich bin mit dem Bus gekommen
und fahre auch mit dem Bus wieder zurück.»
«Aber Dad muss noch nach
London. Außerdem dachte ich, wir sollten heute Abend alle nüchtern bleiben.
Sind wir nicht deshalb hier?»
«Allerdings. Schrei bitte nicht
so. Und lies das. Simon hat es schon gesehen. Ganz schön fix, diese
Lokalreporter.»
Sarah nahm ihrem Vater die Oxford
Mail ab. Die Rückseite war so gefaltet, dass die Spalte «Letzte Meldungen»
zu sehen war.
Tausende von Familien zum Schutz vor Hurrikan Georges
evakuiert, der mit Regengüssen und Windstärken von über 190 Stundenkilometern über
Florida Keys hinwegfegt.
Schwere Behinderungen auf der A40 durch umgestürzten
Laster bei Eynsham, der große Mengen an Rinderblut geladen hatte.
John Barron, Maurer aus Lower Swinstead, in
der Sheep Street, Burford, von einer Leiter gestürzt. Nach der Einlieferung ins
Krankenhaus konnte nur noch der Tod festgestellt werden.
Kapitel
47
Verschiedene
Dinge können auf verschiedene Weise so aufaddiert werden, dass man zu
identischen Lösungen kommt, so wie «eleven plus two» ein Anagramm von «twelve
plus one» bildet.
(Margot
Gleave, A Classical Education)
Dank großzügigen
Personaleinsatzes und gezielter Befragungen war man rasch zu — allerdings hier
und da überraschenden — Ergebnissen gekommen, die Sergeant Lewis, als er an
jenem Montagabend noch spät in seinem Büro saß, in aller Ruhe klassifizieren
und kategorisieren konnte. Bislang stellten sich für ihn die Fakten und die
entsprechenden Kommentare wie folgt dar:
1. Das blanke orangerote
Stanley-Messer war zusammen mit anderen Gegenständen am Samstag der vergangenen
Woche in einer Eisenwarenhandlung in Burford gekauft worden (die Quittung hatte
sich in Barrons Spesenordner gefunden). Dass Barron trotzdem ein Mörder war, ließ
sich natürlich nicht ausschließen. Zumindest aber hatte er den Mord nicht mit
dem Messer begangen, mit dem er an jenem Morgen in der Sheep Street, fast auf
der letzten Sprosse der ausgezogenen Leiter stehend, in dem morschen
Fensterbrett des Dachfensters herumgestochert hatte.
2. Die Flecken auf dem Overall,
den Barron an jenem Morgen getragen hatte, waren mit Sicherheit kein
Menschenblut, sondern höchstwahrscheinlich Spuren einer unter dem Markennamen
Cremosin im Handel befindlichen Farbe, von der mehrere Zwei-Liter-Kanister in
Barrons Garage standen, die ihm ausschließlich als Materiallager diente.
3. Am Morgen des Freitags, an
dem Flynn und Repp ermordet worden waren, hatte Barron zur gewohnten Zeit das
Haus verlassen. Er wollte nach Thame, wo zwei Häuser zur Renovierung
ausgeschrieben waren und er ein Angebot unterbreiten wollte. Diese Information
verdankten sie einer Aussage von Linda, Barrons Frau. Inzwischen hatte man in
Barrons Lieferwagen eine Parkberechtigung für vier Stunden gefunden, demnach hatte
sich der Maurer am 24. Juli auf einen längeren Aufenthalt in der Innenstadt von
Thame eingerichtet.
4. Bisher gab es noch keinen
Hinweis darauf, dass Barron von irgendwoher Geldsummen
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