Und manche liebe Schatten steigen auf
sollte, nicht vorgestellt. Die Augensterne waren wie erloschen, und das Weiße des Aufapfels fast braun, das Gesicht hatte eine gelbbraune Farbe, die Backenknochen traten aus den abgemagerten, hohlen Wangen stark hervor, die eine Gesichtshälfte erschien wie etwas gelähmt, die Haltung war gebückt und müde, der Gang schleppend, und die Kleider schlotterten um den zum Skelett abgemagerten Körper – ein Bild des Jammers! Am 13.März sah ich ihn zum letzten Male in seiner Wohnung; er bot mir, wie gewöhnlich, eine Zigarre an, die ich diesmal gern zum Andenken mitgenommen hätte, aber er nötigte mich, sie anzubrennen. Beim Abschiede sagte er dieses Mal nicht „auf Wiedersehen im nächsten Jahre!“
Um nicht mit diesem trüben Bild zu schließen, will ich kurz von meiner ersten Begegnung mit Brahms erzählen. Es war in Köln gegen Ende des Sommers 1853, als ein junger, hübscher Mann mit langem, blonden Haare und fast mädchenhaftem Gesicht in mein Zimmer trat, mir einen Brief von dem Universitätsmusikdirektor Anold Wehner, einen Gruß von meinem Freunde Wasielewski aus Bonn überbrachte und sich als Johannes Brahms vorstellte. Man hatte damals noch nichts von ihm gehört. Er fragte mich, nachdem wir längere Zeit geplaudert hatten, ob ich etwas von ihm hören wollte, und spielte mir dann auf meine Bitte sein später als op.4 erschienenes Scherzo in Es-moll vor, und zwar so künstlerisch vollendet, dass ich über das Spiel ebenso freudig erstaunt war wie über die Komposition des damals zwanzigjährigen Künstlers. Ich führte ihn dann zu Ferdinand Hiller und geleitete ihn endlich auf den Bahnhof in Deutz, weil er beabsichtigte, Schumann in Düsseldorf zu besuchen. Zum Abschied gab er mir seine Photographie; ich habe sie nun 47 Jahre lang getreulich aufgehoben, und wahrscheinlich werden nicht mehr viele Exemplare dieser Aufnahme existieren. Freilich kann man sich aus ihr nur den Kopf konstruieren, der uns durch die zahllosen Bildnisse, die ihn in seinen späteren Mannesjahren darstellen, vertraut geworden ist. Einige Wochen nach jenem Tage, an dem der junge Brahms die Fahrt zu Robert Schumann angetreten hatte, las man dessen berühmt gewordenen Artikel „Neue Bahnen“.
Felix Mendelssohn Bartholdy
Für den, welcher die Zeit erlebt hat, in welcher Felix Mendelssohns Ruhm im hellsten Glanze strahlte und nahezu ein unangetasteter war, ist es eine eigene Empfindung, heute – wenig mehr als fünfzig Jahre nach seinem Tode – Zeuge davon zu sein, wie nicht allein mancher wohlbestallte Musiker, sondern sogar mancher angehende Jünger der Tonkunst achselzuckend über ihn lächelt, und wie gar viele Kritiker ihm nur noch widerstrebend einige Gerechtigkeit widerfahren lassen, während sie mit Behagen seine Schwächen bloßlegen. Ist Mendelssohn früher überschätzt worden? Nimmt man an, dies wäre der Fall – ich gestehe es übrigens nicht zu – so muss man doch wenigstens einräumen, dass er heutzutage von gar vielen in weit höherem Grade unter schätzt wird, als man ihn bei seinen Lebzeiten hier und da über schätzt haben mag. Er hat Bachs Matthäus-Passion aus mehr als hundertjährigem Schlummer erweckt, er hat der Welt eine Sommernachtstraum-Musik, einen Elias, ein Violinkonzert, das schon über ein halbes Jahrhundert neben dem Beethovenschen seinen Rang behauptet, manche zu Volksliedern gewordene Weisen, die „Hebriden“, das Oktett und gar manches andere Herrliche geschenkt. Ein solcher Meister dürfte wohl das Anrecht haben, stets wenigstens mit Achtung genannt und beurteilt zu werden, während leider zu konstatieren ist, dass dies häufig, sehr häufig nicht der Fall ist. Nomina sunt odiosa . - Mag auch in unserer raschlebigen Zeit manches der überaus zahlreichen Mendelssohnschen Werke dem heutigen Gefühlsleben schon entrückt sein, mag besonders der italienische Verismus und manch andere Richtung dafür gesorgt haben, dass ein großer Teil des heutigen Publikums nur noch durch gewaltsame Mittel und Anhäufung aller denkbaren Instrumentaleffekte gepackt und ergriffen werden kann, so ist doch des Trefflichen, welches jede gesunde Natur erquicken muss, bei Mendelssohn gar viel zu finden, und man wird gut tun, noch auf lange Jahre hinaus seine besten Werke treu zu pflegen. Jedenfalls sind sie insgesamt gesunden Inhalts und vollendet in der Form, so dass ihre Pflege niemals schädlich wirken kann. Ich glaube nicht, dass meine schwache Feder imstande sein wird, die augenblickliche
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