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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari
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worden für die Toten, die sie nicht mehr hören können.)
    – Mon Capitaine, Andreanis Männer sind da.
    – Sagen Sie Moreau, er soll sich darum kümmern, ihnen die Gefangenen zu übergeben. Ich habe zu tun. Geben Sie ihm die Liste.
    Durchs Fenster hindurch betrachtet er die Sichel des hell leuchtenden Mondes inmitten eines von Sternen übersäten Himmels. Er hat das Gefühl, einen alterslosen Ritus zu erfüllen. In Jerusalem ist das Gewitter der Kreuzigung vorüber, auf der Terrasse seines Palastes richtet der Statthalter von Judäa seine von Nostalgie verschleierten Augen auf denselben Mond. Der schwere Stein der Grabstätte hat sich über den Leibern der zu Tode Gemarterten geschlossen und die Stille der Nacht bereitet ihnen keine Furcht mehr.
    (Wie viele unterschiedliche Gesichter, Jeanne-Marie, besitzt er denn? Ist es ihm eine Lust, unerkannt zu sein, damit wir in die Irre geleitet wären und uns von ihm abwenden, wo wir der Meinung sind, ihn zu suchen? Ist er bösartig? Ergötzt er sich daran, uns fallen zu sehen? Entlohnt er so unsere Schwäche und unsere Liebe? Sein Leib ist hässlich. Nichts Majestätisches geht von ihm aus. Er strahlt nicht. Seine Verletzungen sind grauenvoll und rufen kein Mitgefühl hervor. Er wirkt wie ein Gesetzesbrecher, dem die Justiz das Rückgrat gebrochen hat. Niemand weint um ihn. Derjenige, der die Tränen bei seinem Anblick nicht zurückhalten kann, ist gerettet, aber es weint ja niemand. Siehst Du, ich weine nicht. Die erbarmungslose Logik stärkt meinen Geist und die Logik nützt mir nichts, sie dreht sich um wie ein Handschuh und all die zahllosen Gründe, die mich seine Martern haben in Kauf nehmen und die Hand gegen ihn erheben lassen, besitzen so viel Konsistenz wie Dunst. Und ich habe die Hand gegen ihn erhoben, Jeanne-Marie, und zwar wiederholt, und ich habe ihn nicht erkannt, Macht und Logik haben meine Hand bewaffnet, ihr Kraft verliehen, aber diese Hand ist zurückgesunken, ohnmächtig und leblos, und nichts kann ich machen, damit sie sich nur nie erhoben hätte. Aber er, Jeanne-Marie, er, der alles kann? Könnte er nicht machen, dass sie sich nie erhoben hätte? Könnte er nicht machen, dass ich meinen Geist zurückgestoßen hätte und nicht ihn? Denn jetzt habe ich es verstanden und weiß es. Wenn ich ihm noch einmal begegnen dürfte, ich würde ihn erkennen, ganz gleich, welches Gesicht er trüge, und ich wüsste, was zu tun wäre. Denn ich habe auch verstanden, dass das Böse nicht das Gegenteil des Guten ist: Die Grenzen zwischen Gut und Böse sind verschwommen, sie vermengen sich miteinander und werden ununterscheidbar in der trübsinnigen Eintönigkeit, die alles umfasst, und das ist das Böse. Ich habe auch verstanden, dass der Geist der blutleeren Logik nichts vermag ohne Hilfestellung der Seele, er vermag nur im grauen Dunst zu irren, verloren zwischen Gut und Böse, und meine Seele, Jeanne-Marie, ließ ich zurück, irgendwo hinter mir, ich erinnere mich nicht mehr wann noch wo. Was bringt es denn, die Dinge zu wissen, wenn er mich doch nicht in der Zeit zurückkehren lässt. Und was könnte ich anderes tun, als immer nur noch tiefer mich zu entfernen auf dem Weg, der mich von ihm und Euch trennt? Ich wünschte, er würde mich zur Morgendämmerung jenes Tages zurückversetzen, der sich meinem Gedächtnis entzieht und den allein er kennt. Ehrlich gesagt, wenn mir Zorn noch irgendetwas bedeuten könnte, ich wäre so unsagbar zornig auf ihn. Warum hat er mich all die Liebe, die ich in mir trug, vergeuden lassen? Warum hat er mich Eurer unwürdig werden lassen? Aber er gewährt mir ja nicht einmal die Gnade seines Zorns, Jeanne-Marie, ich bin ein wimmerndes Tier, so kaltherzig, dass es den Schmerz, der es wimmern läßt, nicht einmal mehr spürt, und selbst wenn ich weiß, dass ich das Recht, zu ihm zu beten, seit Langem verwirkt habe, so bete ich doch zu ihm. Ich möchte ja nur, dass er mir erlauben möge, zurückzukehren, und sei es nur für einen Augenblick, dorthin, wo ich meine Seele ließ.)
    Aber alles schwindet so schnell – Tahars Gesicht, wie er lächelte in Taghit oder Timimoun, während sanfter Wind die Locken seines schwarzen Haars durchfährt, oder auch der Widerhall von Claudies Lachen am Strand von Piana. Capitaine André Degorce kehrt zurück an seinen Schreibtisch und setzt sich hin. Er schreibt einen einzigen langen Satz, ein unleserliches Gekritzel, in das er all seine Liebe fließen lässt.
    Oh nein, mon Capitaine, ich werde Sie nicht

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