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Und meine Seele ließ ich zurueck

Und meine Seele ließ ich zurueck

Titel: Und meine Seele ließ ich zurueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari
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aus, mon Capitaine, bemerkt ein Soldat. Soll ich prüfen gehen?
    Der Capitaine antwortet wortlos mit einem Kopfschütteln.
    – Ich habe keine Ahnung, wann wir Scheiße gebaut haben sollen, mon Capitaine, sagt Moreau mit niedergeschlagener Stimme.
    – Ich nehme es Ihnen nicht übel, Moreau, sagt der Hauptmann. Wir haben alle Scheiße gebaut, wie Sie es ausdrücken, und ich weiß nicht, ob es wichtig ist, zu wissen wann.
    Capitaine Degorce versucht noch einmal, die Augen von Clément zu schließen, vergeblich. Er richtet sich langsam wieder auf. Er schaut auf seine Schuhe voller Blut, die sich mit einem saugartigen Geräusch vom Boden lösen.
    – Reinigen Sie mir die Zelle, sagt er. Und waschen Sie diesen Jungen zu Ende.
    Er schaut noch einmal Clément an, die milchige Blässe seiner Haut, seine offenen Augen, die nichts mehr sehen.
    – Folgen Sie mir, Moreau.
    In seinem Büro legt er ein Dossier auf den zerrissenen Brief von Jeanne-Marie.
    – Robert Clément ist heute Morgen, nachdem er angehört worden war, freigelassen worden, sagt er zu Moreau und betont dabei sorgfältig jedes einzelne Wort. Heute Nacht nehmen Sie den Leichnam und lassen ihn verschwinden, ich will gar nicht wissen wie, ich möchte nur sichergehen, dass man ihn niemals finden wird. Haben Sie mich verstanden?
    – Ja, mon Capitaine, willigt Moreau ein. Aber, fährt er nach einer Weile fort, niemand wird glauben, dass wir ihn freigelassen haben und er sich dann einfach in Luft aufgelöst hat.
    Der Capitaine zuckt mit den Schultern.
    – Na und, Moreau, was bedeutet es schon, was man glaubt oder nicht? Was bedeutet es schon?
    Capitaine Degorce senkt den Kopf und massiert sich mit den Fingerspitzen die Schläfen.
    – Und jetzt lassen Sie mich bitte allein.
    *
    In jedem Menschen lebt das Gedächtnis der Menschheit fort. Und die Unmenge all dessen, was an Wissen zur Verfügung steht, ist inzwischen allen bekannt. Deshalb wird es auch kein Verzeihen geben. Capitaine Degorce ist in sein Zimmer zurückgekehrt, der Bibel wegen. Er streicht über den abgenutzten Einband. Es steht ein fruchtbarer Satz darin, irgendwo im Johannesevangelium, den er dringend lesen muss, und er liest: »Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht; denn er kannte sie alle und bedurfte nicht, dass jemand Zeugnis gäbe von einem Menschen; denn er wusste wohl, was im Menschen war.« Er greift nach Briefpapier und betrachtet das weiße Blatt, ohne etwas zu schreiben.
    (Mir ist eine Stimme wiedergegeben worden, aber was soll ich mit ihr anfangen? Seit Langem schon bin ich der Lüge Fraß. Ich weiß, was im Menschen ist, ich habe es so viele Male gesehen und es nie ausgesprochen. So habe ich weiterhin leben können. Den Familien aller bei Detonationen an meiner Seite gestorbenen Kameraden habe ich immer nur Lügenfetzen geschrieben. Ich habe von Mut gesprochen, vom Opfer, von Stolz. Ich hätte zu ihnen sagen sollen: Ihr Ehemann ist tot und ich bin schuld, Ihr Bruder ist tot und ich bin schuld, oder auch Ihr Sohn. Ich habe sie nicht retten können. Ich habe es nicht gewollt. Sie sind tot, da sie mit angesehen haben, dass Menschen akzeptierten, wie Insekten zu leben, Menschen wie ich. Sie sind tot, weil sie sich nicht damit haben abfinden können und weil sie sich bei unserem Anblick, bei meinem und meinesgleichen, fragten: Wofür dann noch leben? Da, wo wir waren, Jeanne-Marie, konnte sich niemand diese Frage stellen und weiterleben. Sicherlich, Jeanne-Marie, jemand bleibt im Schutze Deines liebenden Herzens bestehen, dort, wo ihn nichts heimsuchen kann, und im Herzen der Kinder auch, aber dieser jemand bin nicht ich. Ich habe keine Bleibe, nicht einmal in der Hölle. Meine Arme, die sich Euch entgegenstrecken, müssten zu Asche zerfallen. Die Seiten des Heiligen Buches müssten mir die Augen verbrennen. Wenn Ihr sehen könntet, wer ich bin, Ihr würdet die Augen vor den Tatsachen verschließen und Claudie würde sich von mir mit Entsetzen abwenden. So ist es. Etwas taucht plötzlich aus dem Menschen hervor, etwas Fratzenhaftes, das nicht menschlich ist, und doch ist es die Essenz des Menschen, seine tiefe Wahrheit. Der ganze Rest ist nichts als Lüge. Jeanne-Marie, der Frühling ist eine Lüge, der Himmel ist nicht blau, und noch heute habe ich ein Kind umgebracht und ich habe meinen Bruder umgebracht. Die unverdiente Liebe hat ein tödliches Gewicht. Wie soll ich es Dir sagen? Mir ist eine Stimme wiedergegeben worden für die Stille und für die Nacht. Eine Stimme ist mir wiedergegeben

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