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Und morgen am Meer

Und morgen am Meer

Titel: Und morgen am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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mich abzuholen?
    Ich weiß, ich hätte mich freuen sollen, doch in diesem Augenblick spürte ich nichts weiter als Verwirrung. Nicht einmal ansprechen konnte ich sie.
    »Du bist groß geworden«, sagte meine Mutter nach einer Weile. »Als ich dich das letzte Mal sah, warst du nur so groß.« Sie zeigte meine Körperhöhe mit der Hand, und ich sah, dass sie zitterte.
    Erwartete sie etwas von mir? Was konnte man von seiner Tochter erwarten, die man dreizehn Jahre nicht gesehen hatte?
    Nun, wenn sie mich nicht anfassen wollte, dann würde ich es tun. Kurzerhand erhob ich mich, streckte meine Hand aus und legte sie ihr auf die Wange.
    Sie fühlte sich ein wenig kühl, aber weich an. Und nur Sekunden später kullerte ein Tränenbach über meine Hand. Ihr Körper begann zu zittern, dann endlich streckte sie die Hände nach mir aus und zog mich an ihre Brust. Ich kann nicht beschreiben, was das für ein Gefühl war. Einerseits war es fremd, denn Martina Paulsen war eine Fremde für mich, aber andererseits so vertraut – als ob sich mein Körper daran erinnerte, wie es damals gewesen war, als sie mich noch gehalten hatte.
    »Warum hat Papa dich für tot erklärt?«, fragte ich geradeheraus, als wir beide zusammen auf dem Bett saßen und uns wieder ein wenig beruhigt hatten. Es war eine ziemlich direkte Frage, vielleicht war es auch taktlos von mir, doch das Chaos in meiner Brust erlaubte mir nichts anderes. Nach all der Zeit wollte ich endlich die Wahrheit wissen!
    Mama sah mich so verletzt an, wie es noch nie ein Mensch getan hatte. »Dein Vater hat was …?«, fragte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. »Er kann doch nicht …«
    »Er hat mir erzählt, dass du tot seist. Verbrannt bei einem Autounfall.« Ob er sie auch offiziell hatte für tot erklären lassen, wusste ich nicht, aber was mich betraf, war das die Wahrheit.
    Meine Mutter ließ sich auf das Bett sinken. Die Federn knarrten leise, für lange Zeit war es das einzige Geräusch im Raum.
    »Wir wollten fliehen«, begann sie schließlich. »Beide, mit euch. Über die Ostsee.«
    Morgen am Meer. Hatte Papa ihr dasselbe Versprechen gemacht? Konnte ich mir nicht vorstellen, doch es war seltsam, dass sie auch ans Meer wollten. Ich erinnerte mich wieder an unseren Ausflug nach Warnemünde. Genau genommen waren wir nur ein einziges Mal dort gewesen, in der Nähe der Sicherungsanlagen des Fährhafens. Auf einmal hatte ich wieder vor mir, wie Papa auf das Wasser geschaut hatte. Als hätte er dort irgendwas verloren.
    »Und was ist schiefgegangen?«, fragte ich, denn dass etwas schiefgegangen war, wusste ich ja von Mirko.
    »Kann ich nicht genau sagen. Ich bin der Meinung, dass wir bespitzelt wurden. Man ließ uns so weit gehen wie möglich, dann tauchten plötzlich Leute vom MfS auf. Wir waren aber nicht diejenigen, auf die sie scharf waren. Sie wollten die Fluchthelfer. Jedenfalls hat Theo mir das so erklärt, als wir über die Grenze waren.«
    »Theo?«
    »Einer der Helfer. Er war der Bruder eines Mannes, der in den Sechzigern Leute aus Berlin geschmuggelt hat. Im großen Stil gab es das nicht mehr, aber hin und wieder konnte man Kontakt zu solchen Leuten aufnehmen. Und Theo war einer derjenigen, die sich unter falschem Namen in der DDR aufhielten, um Fluchtwilligen seine Hilfe anzubieten. Auf ihn und seine Freunde hatten es die Stasileute abgesehen. Einer seiner Freunde war nur knapp einem Giftanschlag entkommen. Das MfS hat einen langen Arm. Jedenfalls sollte in dieser Nacht Theo geschnappt werden. Doch er konnte fliehen. Mit mir. Du kannst mir glauben, dass ich verrückt vor Angst um euch war. Ich habe mich gleich nach meiner Ankunft an die Behörden gewandt, doch wie man weiß, arbeiten die sehr langsam. All meine Bemühungen wurden verschleppt oder verliefen im Sande.«
    »Und warum die Geschichte mit dem Feuer?«, fragte ich. »Warum hat Papa nicht behauptet, dass du ertrunken seist?«
    Sie rang sichtlich um Fassung. »Wahrscheinlich erschien ihm das sicherer. Ich weiß nicht, warum er es getan hat. Vielleicht war er enttäuscht darüber, dass ich nicht zurückgekommen bin. Dass ich nicht mehr versucht habe, euch da rauszuholen.«
    »Aber du hast es versucht.«
    Sie nickte und wischte sich die Tränen von den Wangen.
    »Ich wollte euch alle zu mir holen, aber euch wurde die Ausreise verwehrt. Ich habe Antrag um Antrag geschrieben, Bitte um Bitte. Niemand wollte mir helfen, wirklich niemand.«
    Meine Mutter begann zu schluchzen, aus dem Schluchzen wurde ein

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