Und morgen am Meer
antwortete Claudius und deutete auf mich. »Ich bin Bundesbürger. Wir sind auf der Flucht vor der Staatssicherheit, die Frau Paulsen verhaften wollte.«
Der Mann musterte uns kurz, dann bedeutete er uns, ihm zu folgen.
Nicht nur das Äußere des Palais, in dem die Botschaft untergebracht war, war beeindruckend, auch das Innere. Herr Huber instruierte ein paar Leute und wandte sich dann an uns.
»Entschuldigen Sie bitte, ich muss zu einem wichtigen Termin. Aber ich habe Bescheid gegeben, dass man sich um Sie kümmern soll. Alles Gute!«
Er reichte uns beiden die Hand und rauschte davon. Ich war von den Socken. Hatte ich soeben dem westdeutschen Botschafter die Hand geschüttelt?
Tatsächlich kümmerte man sich um uns. Wir wurden in ein Büro geführt, bekamen Kaffee und Wasser und etwas Obst. Unsere Personalien wurden aufgenommen und nun endlich konnte Claudius seine Papiere hervorholen.
Noch immer pochte die Angst in mir. Was, wenn ich wieder fortgeschickt wurde? Wenn sie mir die Geschichte mit der Stasi nicht glaubten?
»Wir haben es geschafft«, sagte Claudius zu mir und drückte meine Hand. »Wir haben es wirklich geschafft.«
Noch nicht ganz, lag es mir auf der Zunge. Immerhin sind wir noch nicht am Meer. Aber wir waren fürs Erste in Sicherheit.
Es dauerte lange, bis jemand kam, um uns zu erläutern, wie es jetzt weitergehen sollte. Die Zeit reichte aus, um das Unwohlsein in meinen Knochen weiter wachsen zu lassen. Mir war schwindelig und schlecht, da halfen auch der Kaffee und das Wasser nichts. Wieder war das Gefühl da, mich einfach auf den Boden zu legen und einzuschlafen.
Als endlich eine Frau und ein Mann erschienen, wurde das Gefühl so übermächtig, dass ich mich ihm nicht mehr länger entgegenstellen konnte. Ich ließ mich fallen und die Welt wurde schwarz um mich.
Als sie wieder hell wurde, lag ich in einem Bett und hatte das Gefühl, dass meine Lunge in Flammen stand. Ich sah mich um, fragte mich, wo ich war, als plötzlich eine Frau zur Tür hereinkam und sich neben mein Bett setzte. Eine dunkle Haarsträhne hatte sich aus ihrer Frisur gelöst, aber ihr Kostüm saß noch immer perfekt.
An ihren Namen konnte ich mich nicht mehr erinnern, der war von der Dunkelheit verschluckt worden.
»Eigentlich müssten wir Sie zurückschicken. Immerhin sind Sie noch minderjährig und unterstehen der Fürsorgepflicht ihres Vaters«, eröffnete sie mir.
»Nein!«, schrie ich und fuhr in die Höhe. Ein Stechen durchzog meine Schläfe und mir wurde wieder schwindelig.
»Nein, bitte schicken Sie mich nicht zurück! Wissen Sie, was mir dann passiert? Wissen Sie das?«
Meine Stimme überschlug sich und verschwand schließlich in einem Hustenanfall. Erschrocken registrierte ich, dass ich mich genauso anhörte wie Claudius, als er in der Praxis von Dr. Karol gelegen hatte. Offenbar hatte ich mich bei ihm angesteckt.
Die Frau wartete geduldig, bis ich wieder Luft bekam.
Ich starrte sie hasserfüllt an. All die Mühe sollte umsonst gewesen sein? Nein, das wollte ich nicht einsehen.
»Meine Mutter«, krächzte ich. »Suchen Sie meine Mutter. Sie lebt im Westen. Ihr Name ist Martina Paulsen. Oder vielleicht heißt sie mittlerweile auch anders, aber sie muss siebenundsiebzig in die BRD ausgewandert sein und …«
Die Frau legte mir die Hand auf die Schulter, um meinen Redefluss zu stoppen, doch das gelang ihr nur für einen Moment. »Fragen Sie meinen Vater, zwingen Sie ihn, es Ihnen zu erzählen«, plapperte ich weiter, dann sah ich ein Lächeln auf Ihrem Gesicht.
»Ich denke, ich sollte Ihnen wohl besser einen Arzt schicken. Und ich kann Sie beruhigen. Wir werden Sie bis zu Klärung aller Sachverhalte nicht wegschicken. Herr Hegemann hat uns erzählt, dass Sie von der Staatssicherheit verhört wurden und dass Ihnen angedroht wurde, Sie in einen Jugendwerkhof zu stecken. Da Sie bereits siebzehn Jahre alt sind, haben Sie die Möglichkeit, politisches Asyl zu beantragen, da Ihnen in Ihrer Heimat Verfolgung droht. Ich werde alles Nötige in die Wege leiten.«
Politisches Asyl.
Mein Kopf schwirrte.
Als ob ich irgendeine Bürgerrechtlerin wäre … Das war ich nun ganz und gar nicht, doch es erleichterte mich ungemein, dass ich nicht wieder wegmusste. Beim nächsten Zusammentreffen mit der Stasi würde ich nicht so viel Glück haben, dabei … hatte ich doch überhaupt nichts getan, was gegen das Gesetz verstieß.
Mir war es nicht verboten gewesen, in die ČSSR zu reisen.
Mir war es nur verboten, einen
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