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Und morgen am Meer

Und morgen am Meer

Titel: Und morgen am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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Jungen aus dem Westen zu lieben. Es war gut, dass ich nicht mehr dafür bestraft werden konnte.
    Am nächsten Morgen war ich diejenige, die den Arzt nötig hatte. Es war ein Mann mit kalten Händen, der mich gründlich untersuchte und mir dann Tabletten daließ – Penizillin. Die Tabletten waren furchtbar groß und passten nur knapp durch meinen Hals, aber ich hatte keine andere Wahl, als sie zu schlucken.
    Nun war Claudius derjenige, der mich besuchte, mir Obst und Pudding brachte und versuchte, mich von den schmerzenden Gliedern und den Hustenattacken abzulenken. Er brachte mir Bücher, Saft und Zeitungen, sogar eine
Bravo
, die voller Poster war.
    Und er erzählte mir von den anderen Flüchtlingen in der Botschaft, die kurz vor uns hier eingetroffen waren. Dr. Karol war gut informiert gewesen. Tag für Tag versuchten Leute aus der DDR , die Absperrungen der Botschaft zu überwinden – was ihnen auch meistens gelang. Die Reisevorschriften nach Ungarn waren verschärft worden.
    »Wahrscheinlich wären wir gar nicht bis nach Sopron gekommen«, erklärte Claudius, während er mit seinem Finger Kringel auf meine Bettdecke zeichnete. Sein dunkles Haar hing ihm inzwischen etwas länger ins Gesicht, obwohl er nun die Möglichkeit gehabt hätte, es abschneiden zu lassen.
    »Vielleicht sollte wirklich alles so kommen, wie es gekommen ist«, entgegnete ich und konnte mich nicht zurückhalten, meine Hände durch sein Haar gleiten zu lassen.
    Ich streichelte es weiter, während er mir erzählte, wie mittlerweile Leute über den Zaun des Palais Lobkowicz kletterten und sogar Kinderwagen herüberhievten. Da in der Botschaft nur noch wenig Platz war, begann man Zelte aufzustellen.
    »Wenn das so weitergeht, ist die Botschaft in ein paar Tagen überfüllt«, prophezeite Claudius zum Schluss. »Irgendwas muss geschehen.«
    »Das wird es hoffentlich«, antwortete ich und zog seinen Kopf auf meinen Bauch. Es war schön, dass er dort liegen blieb, bis ich wieder eingeschlafen war.
    Ein paar Tage später, Claudius hatte mir gerade einen Becher Vanillepudding mit Sahne gebracht, erschien die Frau wieder, von der ich inzwischen wusste, dass sie Frau Montag hieß. Wie immer, wenn sie kam, hatte ich die Hoffnung, dass sie irgendeine Nachricht von meiner Mutter hatte.
    Doch sie wandte sich stattdessen an Claudius. »Würden Sie bitte mitkommen? Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.«
    Was denn? Mich zerriss es vor Neugierde, und gleichzeitig begann mein Magen wieder zu kneifen. War es etwas Schlimmes? Sie wirkte so förmlich …
    Kurz nachdem Claudius mit Frau Montag verschwunden war, trat eine andere Frau in den Raum.
    Sie war ungefähr so groß wie ich, trug eine Stoffhose und eine geblümte Bluse. Ihr Haar hatte die gleiche Farbe wie meines und auch sonst fiel mir auf, dass sie sehr viel Ähnlichkeit mit mir hatte. Ihre Augen waren dieselben wie meine und ihre Nase …
    Obwohl in mir eine Ahnung aufstieg, fühlte ich in diesem Augenblick nichts.
    »Mile…?«, fragte sie schüchtern, während sie mich von Kopf bis Fuß musterte. Ihre Stimme brach bei der letzten Silbe, sie schluchzte auf und presste sich die Hand auf den Mund. »Mil…« Sie brachte es nicht über sich, meinen Namen ganz auszusprechen.
    »Mama?«, fragte ich, noch immer ruhig. Viel zu ruhig dafür, dass ich mir so viele Jahre vorgestellt hatte, wie es wäre, wenn ich meine Mutter treffen könnte.
    Kein Zweifel, das da vorn, die Fremde mit den mir ähnlichen Zügen, war meine Mutter!
    Das bestätigte sie mir nun auch mit einem Nicken, während sie zu mir kam und sich vor mich hockte. Obwohl ich wieder gesund war, hatte ich in diesem Augenblick irgendwie nicht die Kraft aufzustehen. Meine Knochen schienen aus Gummi zu sein, meine Muskeln lose Bindfäden. Also doch eine Reaktion. Mein Körper wusste anscheinend schon eher als mein Verstand, was ich fühlen sollte.
    »Milena, meine Kleine.« Vorsichtig streckte sie die Hand aus, um mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen, zögerte dann aber im letzten Moment und nahm die Hand wieder runter.
    Ich wünschte mir, dass sie mich berühren würde, damit ich auch spüren konnte, dass sie echt war, dass ich nicht wieder irgendeinen Mist träumte wie in den Tagen des Fiebers.
    Doch sie wagte erst mal keinen zweiten Versuch.
    Ich konnte nichts sagen. Ich starrte sie an, erkannte nach und nach die junge Frau auf dem Foto in meiner Erinnerung. Ja, das war meine Mutter. Sie lebte. Und sie war hier. War sie gekommen, um

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