Und morgen am Meer
Stasileute stand und dann triumphierend von einem Bein aufs andere sprang, weil wir uns verraten hatten.
»Dann kommen«, sagte der Polizist, nachdem er sich kurz umgesehen hatte. »Stasi rauchen. Motorrad hinter Scheune.«
Claudius packte mich am Arm und zog mich in die Höhe. Ich verstand, dass wir nur wenige Augenblicke hatten. Diese entschieden darüber, ob wir nach Prag kamen oder in die DDR zurückmussten – mit allen Konsequenzen.
»Danke«, rief ich dem Jungen zu, dann schossen wir los, zitternd, mit rasendem Herzen und angehaltener Luft.
Geduckt hasteten wir um das Haus herum, hörten die Stimmen der Männer, die noch nicht bemerkt hatten, dass uns die Tür geöffnet worden war. Der junge tschechische Polizist stand noch immer draußen, tat so, als wären seine Gefangenen noch da. Und wir rannten. Mir war auf einmal so schlecht, als hätte ich Seifenlauge geschluckt. Doch kotzen musste ich nicht. Stattdessen zitterten meine Glieder wie verrückt, und glücklicherweise war Claudius’ Hand da, die mich gnadenlos mitzerrte, bis wir endlich vor der Jawa standen.
Noch hatten die Männer nichts mitbekommen. Der Polizist stand vor der Tür, als hätte er immer noch was zu bewachen.
Glücklicherweise steckte der Zündschlüssel. Hatten wir das dem jungen Polizisten zu verdanken? Warum hatte er uns geholfen? Wir würden es nie erfahren.
Claudius drehte den Zündschlüssel rasch herum, bockte die Maschine ab und hob den Fuß auf das Anlasserpedal. Kurz blickte er zu mir, nickte mir zu. Jetzt musste alles schnell gehen.
Claudius spannte seine Muskeln, dann trat er den Anlasser herunter. Das Geräusch kam mir überlaut vor – und schlimmer noch, das Motorrad reagierte nicht!
Komm schon, komm schon, komm schon, bat ich im Stillen.
Da sprang die Jawa mit einem wütenden Röhren an!
Die nächsten Augenblicke erschienen mir, als würde ich sie von oben beobachten, völlig unbeteiligt. So wie man im Film mit den Helden mitfiebert, wenn sie vor einer fast unlösbaren Aufgabe standen.
Wir preschten vom Hof, und natürlich bemerkten die Stasileute nun, was los war.
Allerdings waren sie wohl dumm genug, erst mal im Haus nachzuschauen, statt ihren Augen zu trauen, dass wir türmten. Claudius beschleunigte und holte aus der Maschine raus, was er konnte. Immer die Straße lang. Nach Prag. Zur Botschaft. Keine Umwege mehr, keine Experimente. Keine Waldwege.
Natürlich wussten die Stasileute, wohin wir fahren würden. Und so saß uns die Angst, dass sie uns einholen würden, im Nacken. Doch wir hatten einen Vorsprung und kamen mit dem Motorrad schneller voran als sie mit ihren Ladas.
Als ich nach etwa einer Stunde Fahrt das Ortsschild von Prag sah, brach ich beinahe in Tränen aus. Halt!, sagte ich mir, noch haben wir es nicht geschafft. Erst mal mussten wir die Botschaft finden.
Das Tempo, mit dem Claudius durch die Stadt fuhr, war mehr als gesetzeswidrig, doch es zeigte sich, dass er einen tollen Orientierungssinn hatte.
Zunächst wollte ich nicht glauben, dass das märchenhaft aussehende Schloss die Botschaft sein sollte, aber Claudius war sicher, dass sie es war. Milizionäre liefen um das riesige Gebäude mit dem weitläufigen Park herum, als hielten sie Ausschau nach Flüchtlingen.
Und wir hatten wieder Glück: Gerade wurde das große Tor geöffnet. Offenbar wollte der Botschafter gerade wegfahren.
»Festhalten!«, hörte ich undeutlich von Claudius, als dieser auf das Tor zuraste – ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob was von vorn kam.
Als ich die schwarze Limousine sah, die auf uns zurollte, schrie ich vor Schreck auf, doch Claudius lenkte das Motorrad zur Seite und schoss an dem Fahrzeug vorbei.
Die Botschaft! Ein Gebäude wie aus einem Märchenfilm.
Als er die Maschine zum Stehen brachte und den Motor abstellte, wusste ich, dass es kein Traum war. Es war vorbei. Wir hatten es geschafft. Wir waren dort, wo viele andere DDR -Bürger eine Zuflucht gefunden hatten. Ans Meer konnten wir später noch.
»Sagt mal, seid ihr verrückt geworden!«, schimpfte der Fahrer, als er wutentbrannt aus der Tür des Mercedes stürmte. »Ihr habt sie doch nicht mehr alle!«
Claudius zog sich den Helm vom Kopf. Ignorierte das Schimpfen und ging dem Mann entgegen. »Wir brauchen Ihre Hilfe.«
Damit hatte der Chauffeur wohl nicht gerechnet. Verdutzt starrte er uns an, dann kam uns ein Mann im Anzug entgegen.
»Sie kommen aus der DDR ?«, fragte er, nachdem er sich uns als Hermann Huber vorgestellt hatte.
»Sie ja«,
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