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Und morgen am Meer

Und morgen am Meer

Titel: Und morgen am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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mich hin.
    Sabine stand ratlos neben mir, dann ging sie zu ihrem Nachttischchen, zog eine schwarze Kassette aus der Schublade und hielt sie mir hin. »Hier nimm sie«, sagte sie und legte den Arm um meine Schulter. »Die Lieder wirst du schon noch mal bekommen. Vielleicht bringst du mir dann sogar zwei Kassetten mit, die kann ich gebrauchen, wenn wir in den Urlaub fahren.«
    Ich nickte, alles andere als getröstet, und nahm die Kassette an mich.
    Sabine streichelte einen Moment lang meine Schulter, dann fragte sie: »Was hattest du denn alles drauf? Wenn ich es höre, kann ich es doch für dich aufnehmen.«
    Das war lieb von ihr, aber vorrangig sollte sie doch diese Lieder hören und nicht für mich aufnehmen!
    »Es war DeMo drauf und David Bowie. Gerade den Bowie wollte ich schon lange mal haben.«
    »Sie spielen ihn bestimmt wieder.«
    Ja, bestimmt. Irgendwann. Auch bei den Westsendern konnte man nicht sicher sein, dass irgendein Lied bald wieder kam. Und ich konnte nicht einfach bei einer Wunschsendung anrufen! Mal davon abgesehen hatten wir gar kein Telefon und der Münzer an der Ecke war ständig kaputt.
    Darauf, mir jetzt Sabines Kassette anzuhören, hatte ich keine Lust, also gingen wir nach draußen. Hinter Sabines Wohnblock gab es einen Spielplatz mit vielen Bäumen. Wenn dort nicht gerade Kinder herumtobten, konnte man dem Rauschen zuhören und sich, wenn man die Augen schloss, vorstellen, man wäre am Meer.
    An diesem Nachmittag waren aber schon Kinder da, die sich mit Sand bewarfen, als wir kamen.
    »He, ihr da, lasst das!«, rief Sabine ihnen zu, doch sie machten munter weiter.
    Wir setzten uns abseits vom Sandgefecht auf einen Betonblock, und während ich ins Gras starrte, versuchte ich mich zu beruhigen. Mit mäßigem Erfolg. Egal, was Sabine tat oder sagte, um meine Kassette würde ich wahrscheinlich auch heute Abend noch trauern.
    Auf einmal trampelte etwas hinter uns. Ein merkwürdiger Geruch stieg mir in die Nase, und ich glaubte schon, dass es der alte Herr Pommerenke war, der stets einen Beutel voller Bierflaschen dabeihatte. Doch nichts klimperte und auch die Schritte waren zu schnell.
    »Lorenz!«
    Sabine verdrehte die Augen, als sich der Junge neben uns setzte. Lorenz hatte das breiteste Grinsen, das ich je auf einem Gesicht gesehen hatte. Und war der verrückteste Typ, den ich kannte. Trotz der brütenden Hitze trug er seine lange Jeansjacke, darunter ein zerlöchertes Shirt mit Knopfleiste. Auf seiner Jeans stand irgendwas mit Kugelschreiber geschrieben, das man aber nicht mehr lesen konnte, weil der Stoff bis kurz vor dem Verschliss ausgeblichen war. Seine Füße steckten in groben schmutzigen Arbeiterstiefeln.
    Was suchte er hier? Klar, er wohnte im selben Block wie Sabine, aber warum kam er auf den Spielplatz?
    Normalerweise fuhr er nach der Schule zum Alex, wo er sich mit seinen Kumpels traf und dort Musik von den Ärzten, den Hosen oder den Einstürzenden Neubauten hörte, was die Vopos schon mal dazu brachte, spontan ihre Ausweise zu kontrollieren.
    Meine ordentliche Freundin konnte ihn nicht ausstehen, aber ich mochte ihn, trotz seines Aufzugs und dem Iro, den er sich angeblich mit Wasserstoff und Fußpilzmittel pink gefärbt hatte. Lorenz war Punk und stolz drauf.
    Und egal, was andere von ihm hielten – er war ziemlich klug. Er war derjenige, der mir »Romeo und Julia« geliehen hatte, lange bevor wir es in der Schule durchgenommen hatten. Er schaffte es, den Staatsbürgerkundelehrer so lange mit Fragen zu löchern, bis dieser entnervt aufgab. Erst vor Kurzem, als wir uns im Unterricht mit Jugendkulturen beschäftigt hatten, hatte er Herrn Peters darüber aufgeklärt, dass Punks keinesfalls etwas gegen den Sozialismus hatten – sie wollten nur anders sein als die anderen Leute, die durch Berlin geisterten.
    Bekommen war das seinen Kopfnoten nicht. Eine Vier in Betragen war das Resultat. Er tat so, als kümmerte es ihn nicht, doch im Stillen ärgerte er sich mächtig darüber. Und ich fand es ungerecht.
    Besonders gut fand ich an Lorenz, dass er vorhatte, eines Tages in einem Verlag zu arbeiten – kaum zu glauben bei seinem Aufzug, aber ich war sicher, dass er es schaffen würde.
    »Hier, hab was für dich!«, sagte er und zog ein zusammengerolltes Reclam-Büchlein aus der Innentasche seiner Jacke.
    Ich starrte ihn verwundert an. War er extra meinetwegen runtergekommen?
    »Goethe?«, fragte ich, als ich es auseinanderrollte. Lorenz ging nicht besonders pfleglich mit Büchern um,

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