Und morgen am Meer
konnte sie aber fast auswendig, wenn er mit ihnen fertig war.
»Wahlverwandtschaften«, erklärte er mir, als könnte ich es nicht selbst lesen.
»Das seh ich, aber seit wann stehst du denn auf Johann Wolfgang?«
»Seit ich das Buch hier gelesen habe. In der Schule hatten wir’s nicht, deshalb war’s interessant.«
Ich schlug das Buch auf. Sämtliche weiße Ränder waren ganz fein mit Bleistift beschrieben. Typisch Lorenz, auch bei »Romeo und Julia« hatte er das getan.
»Ich hab ein paar Anmerkungen reingeschrieben, falls du mit dem Text nicht klarkommst.«
Ich zog die Augenbrauen hoch. »Ich und nicht klarkommen?«
»Mein ja nur.« Er rieb sich verlegen über die Nase.
Ich lächelte ihn breit an, versetzte ihm dann einen freundschaftlichen Knuff in die Seite. »Danke.«
Lorenz winkte ab. »Lass nur. Hauptsache, du liest es und sagst mir, was du davon hältst.«
»Das werde ich.« Kurz blätterte ich durch das Buch, doch die vielen Anmerkungen musste ich mir in Ruhe anschauen. »Was suchst du eigentlich hier? Du wolltest doch nicht etwa zu mir?«
»Ich hab gesehen, dass ihr hier unten sitzt«, erklärte er ein bisschen verlegen. »Ich wollte dir das Buch morgen in der Schule geben, aber da ich sowieso loswollte, dachte ich mir, ich geb’s dir gleich, dann kannstes schon mal lesen.«
Sabine sah aus, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.
»Also, man sieht sich!«, rief er, winkte noch kurz und verschwand.
»Ich weiß gar nicht, warum du mit dem redest«, murrte Sabine, als er außer Hörweite war.
»Ach, so schlimm ist er doch gar nicht. Schau mal, er liest Goethe. Und kann echt nett sein, wenn er will.«
Sabine sagte dazu nichts, aber ich sah ihr an, dass das ihre Meinung auch nicht ändern würde.
Mich hatte er immerhin für einen Moment vom Verlust meiner Kassette abgelenkt.
Claudius
Wieder zu Hause angekommen verzog ich mich gleich in mein Zimmer. Meine Mutter war noch immer nicht da, wer weiß, welche Gymnastikkurse sie wieder besuchte. Mein Vater würde nicht vor zehn oder elf aus dem Büro kommen.
Die brütende Hitze hatte vor der Mauer nicht haltgemacht, mittlerweile war es auch hier, direkt unter dem Dach, nicht auszuhalten.
Als die Tür hinter mir zufiel, blickte ich zu der Posterwand über meinem Bett. Die würde ich echt vermissen, wenn ich von hier auszog. Natürlich würde ich meine über Jahre mühsam zusammengetragene Sammlung nicht wegwerfen, doch wenn man als Musiker
on the road
unterwegs war, konnte man nicht in jedem Motel oder gar an dem Baum, unter dem man gerade schlief, alle Poster aufhängen. Ich würde sie aufbewahren, bis ich wieder Bock drauf hatte, sesshaft zu werden. Vielleicht mit einem Mädchen wie dem, das ich in der Bahn gesehen hatte.
Der Gedanke kam mir irgendwie komisch vor, denn in meinen Plänen für die Zukunft waren Mädchen bisher nur Randfiguren gewesen. Und irgendwo sesshaft zu sein, konnte ich mir ebenso wenig vorstellen.
Die Kassette schien in meiner Hosentasche zu pulsieren. Den ganzen Weg zurück nach Westberlin hatte ich an ihre Besitzerin gedacht. Neben ihren Augen war ihr kurzes Auflachen das Schönste gewesen, wie eine unfassbar geniale Melodie, die man nicht auf einem Instrument nachahmen konnte. Vielleicht hatte sie auch auf dem Heimweg wieder gelacht, über einen Witz, den ihre Freundin gemacht hatte. Oder über etwas, das in der Schule passiert war.
Auf einmal bereute ich es ein bisschen, dass mich die DDR bisher nicht interessiert hatte. Vielleicht gab es dort doch Raum fürs Leben, für Fantasie? Trotz der baufälligen Häuser in der Schönhauser Allee …
Ratlos drehte ich die Kassette in meinen Fingern herum. Noch immer ging mir mein Vorhaben, der Unbekannten die Kassette zurückzubringen, nicht aus dem Sinn. Mittlerweile hatte sie den Verlust bestimmt bemerkt und war traurig darüber. Obwohl ich sie nicht kannte, wollte ich nicht, dass sie traurig war.
Aber vielleicht gab es ja einen Hinweis auf der Kassette. Klar, sie hatte da sicher nicht ihren Namen draufgesprochen, aber vielleicht handelte es sich nicht um Musik, sondern um ein Schulprojekt.
Kurz fragte ich mich noch, ob ich so einfach in die Kassette reinhören durfte. Doch meine Neugier siegte, und so legte ich die Kassette kurzerhand in meinen Walkman ein.
Was ich hörte, überraschte mich schon ein bisschen. Keine geheimen Botschaften, keine Schlagermucke.
Das Mädel hatte einen recht interessanten Musikgeschmack. So interessant, dass ich auf die Idee kam, die
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