Und morgen am Meer
Gebäudes eine große Metallwand gab, hatte ich gestern gar nicht so deutlich wahrgenommen.
Würde sich je etwas daran ändern, dass Berlin eine Stadt in zwei verschiedenen Welten war?
Das Mädchen, das mir in der S-Bahn Richtung Alex gegenübersaß, brachte mich mit ihrem sehr abgegriffenen Taschenbuch auf eine Idee für ein Geschenk.
In der kleinen Buchhandlung, die uns gestern die verbotenen Bücher verkauft hatte, suchte ich nach einem passenden Buch für sie. Natürlich kein verbotenes, denn sie sollte keinen Ärger bekommen. Möglicherweise gab es unter den nicht verbotenen Büchern aber etwas, das mal nicht vom Sozialismus und Kommunismus oder der SED handelte.
Auf dem Weg nach weiter hinten kam ich an einem Regal vorbei, über dem ein Schild mit der Aufschrift »Romane« hing. Viele Bücher gab es hier nicht.
Während ich mich noch fragte, was Milena vielleicht gern lesen würde, wanderte meine Hand automatisch zu einem schmalen, ziemlich schmucklos aussehenden Buch mit seltsamem Titel. Es stand bei den russischen Autoren, mit denen würde sie vielleicht etwas anfangen können – immerhin lernten die Schüler in der DDR doch Russisch. Ich schlug es auf, las ein wenig darin und entschied, dass es das Richtige war. Der Autor schrieb recht schnörkellos, aber das gefiel mir.
Die Buchhändlerin, die erstaunt war, mich so schnell wiederzusehen, lächelte mich breit an. »›Dshamilja‹ von Tschingis Aitmatow.«
Ich nickte, als wüsste ich ganz genau, was ich da tat. Dabei hatte mich eigentlich nur der Untertitel »Eine Liebesgeschichte« dazu verleitet, nach dem Buch zu greifen. Mädchen – auch in der DDR – mochten doch Liebesgeschichten, oder?
»Gute Wahl«, bestätigte mir die Buchhändlerin schließlich. »Bei uns wird es im Unterricht gelesen, aber ich denke, das ist bei euch anders, oder?«
Im Unterricht? Mich überlief es heiß und kalt. So was mochte sie bestimmt nicht! »Na ja, nein, ich …«, stammelte ich vor mich hin. »Ich wusste nicht, dass es in der Schule gelesen wird.«
Die Buchhändlerin sah mich prüfend an. »Keine Bange, es wird zwar im Unterricht durchgenommen, man kann es aber auch so lesen. Es sei denn, man hat eine Abneigung gegen Liebesgeschichten.«
Sie zwinkerte mir zu.
»Also gut, ich nehme es«, sagte ich und legte das Geld auf den Tisch.
»Grüß deinen Freund Max von mir, wenn du ihn siehst!«, rief sie mir hinterher, als ich den Laden verließ.
Um diese Zeit waren viele Touristengruppen in der U-Bahn-Station. Die Schüler waren längst weg, und Schwänzer oder Penner, wie sie in unseren Bahnhöfen herumlungerten, sah ich nicht. Offenbar trauten sie sich das nicht, aus Angst, von der Stasi eingesammelt zu werden.
Nachdem ich diesmal ordnungsgemäß ein Ticket gekauft hatte, stieg ich in die nächste U-Bahn Richtung Pankow.
In meinem Waggon saßen vorwiegend Rentner, die sich über ihre Arztbesuche und die Enkelkinder austauschten.
Ich selbst hatte keine Großeltern mehr. Die von Vaters Seite hatte ich nie kennengelernt, die von Mutters Seite waren undeutliche Schatten in meiner Erinnerung.
Wenn ich die alten Leute so reden hörte, musste es super sein, einen Großvater oder eine Großmutter zu haben, zu denen man sich flüchten konnte, wenn’s Probleme mit den Alten gab.
Wie wären meine Großeltern wohl gewesen?
Als die Bahn hielt, stiegen ein paar Mädchen ein. Eine von ihnen hatte karamellfarbenes langes Haar!
Mein Puls raste plötzlich. War sie das?
Da sie mir den Rücken zuwandte, konnte ich es erst mal nicht erkennen. Aber von der Größe und der Frisur konnte es hinkommen. Als ihre Freundinnen merkten, dass ich sie anstarrte, stießen sie die Karamellhaarige in die Seite. Sie wandte sich um – doch sie war es nicht. Dieses Mädchen war auch recht hübsch, trug allerdings eine große Zahnspange. Ich lächelte ihr ein wenig verlegen zu, drehte dann aber den Kopf zur Seite. Die Mädchen steckten daraufhin tuschelnd die Köpfe zusammen. Würde gleich eine zu mir kommen? Glücklicherweise mussten sie schon an der nächsten Station raus.
Aufatmend lehnte ich mich zurück und schloss die Augen, bis wir endlich die Schönhauser Allee erreicht hatten.
Der gleiche Anblick wie am Vortag. Trabis und andere DDR -Fahrzeuge, die sich die Straße entlangschoben. Traurig graue Häuserfassaden, hinter denen sich dunkle Wolken auftürmten. Würde es heute Regen geben? Oder ein Gewitter?
Ich hoffte, dass sich das Unwetter noch Zeit ließ, während ich mich
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