Und morgen am Meer
unter der U-Bahn-Brücke postierte, und zwar so, dass ich beide Straßenseiten und den Zugang zur S-Bahn im Blick hatte.
Mit jeder Minute, die verging, wuchs meine Angst. Vielleicht wohnte sie ja gar nicht hier? Vielleicht war sie nur zufällig hier ausgestiegen. Oder sie wollte nur eine Freundin besuchen.
Über mir fuhr die nächste U-Bahn ein. Die aus dem Bahnhof strömende Menschenmenge war ein wenig dichter als bei den Malen zuvor – doch auch diesmal kein karamellfarbenes Haar darunter. Seufzend blickte ich rüber zum S-Bahnhof, dessen gekachelte Fassade unangenehm zwischen den benachbarten Häusern herausstach.
Beinahe zeitgleich mit der U-Bahn war auch eine S-Bahn angekommen. Nach und nach erschienen die Fahrgäste in der Tür. Viele ältere Leute, Arbeiter. Und dann Schüler. Ein Mädchen mit blondem Zopf, das eine abgewetzte Schultasche über der Schulter trug. Moment mal, war das nicht die Freundin des Karamellmädchens?
Ohne lange zu überlegen, rannte ich los. Auf der Straße war in den vergangenen Minuten so wenig los gewesen, dass ich gar nicht mehr auf den Verkehr achtete.
Ein lautes Quietschen ließ mich erschrocken zur Seite springen. Nur eine Armlänge von mir entfernt kam ein himmelblauer Trabant zum Stehen. »Vom Trabi überfahren!« – das wäre eine tolle Schlagzeile für die Bildzeitung gewesen! Mein Herz raste wie verrückt.
»He, bist du verrückt geworden, Junge?«, schimpfte eine Männerstimme aus dem Fenster heraus, dann ließ der Fahrer den Motor aufjaulen. Ich sah zu, dass ich von der Straße kam.
Auf der anderen Seite drängte ich mich zwischen zwei Männern hindurch, rannte dann an einer Frau mit Hund vorbei. Die kleine Promenadenmischung kläffte mich an und zerrte an ihrer Leine. Ich hörte nur noch: »Nun reg dich doch nicht auf, Lenin, ist ja schon gut.«
Jemand nannte seinen Hund Lenin?
Während ich mich fragte, ob ich richtig gehört hatte, rannte ich hinter der Blonden her, die den Gehweg hinuntereilte. »He, warte!«
Zunächst ignorierte sie meinen Ruf, dann blieb sie stehen und blickte sich verwundert um.
»Meinst du mich?«
»Klar, dich, wen sonst!«, gab ich zurück. Erkannte sie mich nicht mehr?
»Hab keine Zeit«, sagte sie nach kurzem Überlegen und wollte sich schon umwenden, doch ich hielt sie am Riemen ihrer Tasche fest.
»He, was soll das?«, fragte sie ärgerlich.
»Ich hab dich gestern in der U-Bahn gesehen. Deine Freundin … sie hat was verloren.«
Noch immer blickte mich das blonde Mädchen wütend an.
»Das ist ihre, nicht?« Ich zeigte ihr die Kassette. »Sie hat sie auf dem Sitz liegen lassen, gestern in der Bahn. Ich habe überall nach ihr gesucht, weil ich sie ihr wiedergeben wollte.«
Jetzt wurde die Miene der Blonden ein wenig freundlicher.
»Ja, das ist ihre Kassette. Sie hat sie ganz furchtbar vermisst.«
»Deine Freundin heißt Milena, stimmt’s?«
Die Blonde nickte.
»Wo kann ich sie finden?«, fragte ich ohne Umschweife, ganz hibbelig in meinem Innern. Milena. Ich hatte recht gehabt!
»Ich kann ihr die Kassette doch geben«, entgegnete die Blonde lächelnd und streckte die Hand aus.
Ich schüttelte den Kopf. Das war lieb gemeint, doch dafür war ich nicht hergefahren. »Ich möchte sie ihr selbst geben. Nicht, dass ich einen Finderlohn will oder so was, ich will nur kurz mit ihr reden.«
Die Blonde kaute auf ihren Lippen herum. Wenn sie gemein war, würde sie sich jetzt umdrehen, mich stehen lassen und sich darüber freuen, dass ich kreuz und quer durch diesen Teil der Stadt lief und nach der Nadel im Heuhaufen suchte.
»Bitte«, flehte ich. »Es ist lebenswichtig.«
»Lebenswichtig?« Sie zog die Augenbrauen hoch. Aber dann lenkte sie ein: »Sie ist bestimmt wieder auf dem Humannplatz, das ist nicht weit von hier.«
»Humannplatz?«
Das blonde Mädchen nickte, erkannte meine Ratlosigkeit und beschrieb mir dann glücklicherweise den Weg.
»Wenn sie nicht da ist, steck ihr die Kassette einfach in den Briefkasten Wichertstraße vierzehn. Paulsen ist der Nachname.«
Milena Paulsen. Klang sehr nett.
»Okay, danke!«, rief ich und hoffte, dass ich sie dort finden würde.
Milena
Am Nachmittag hätte ich eigentlich in der Schule bleiben sollen, um mit Frau Heinrich und den anderen jungen Pädagogen den Abschluss des Schuljahres zu feiern. Doch ich bat Sabine, mich zu entschuldigen und verzog mich an meinen geheimen Leseplatz, einer Bank auf dem Humannplatz, wo ich ungestört mit den »Wahlverwandtschaften« beginnen
Weitere Kostenlose Bücher