Und morgen am Meer
ihn nie wiedersehen?
»Also, mach’s gut, du.«
»Du auch«, gab ich zurück, aber meine Stimme versagte dabei fast. Warum nur ging mir die Aussicht, ihn nie wiederzusehen, so nahe?
»An deiner Stelle würde ich die Kassette behalten«, setzte er hinzu, nachdem er mich auf eine Weise angesehen hatte, als wollte er ein Bild von mir mitnehmen. »Kann sein, dass du auf der anderen Seite noch eine Überraschung findest.«
Seine Augenbrauen zuckten vielsagend, dann stieg er in den Zug ein.
»Sehen wir uns noch mal wieder?«, platzte es aus mir heraus, als sich eine Tür nach der anderen schloss.
»Klar, versprochen!«
Damit schloss sich auch seine Tür und der Zug fuhr an. Kurz noch sah ich Claudius’ Gesicht hinter der Fensterscheibe, dann fuhr der Zug an und verschwand nur wenig später aus meinem Blickfeld.
Claudius
Was für ein Nachmittag! In meiner Brust wirbelte etwas wild herum und ich wusste nicht, ob ich ständig entrüstet den Kopf schütteln oder grinsen sollte.
Entrüstet war ich über das, was Milena mir erzählt hatte. Konnte man junge Leute wirklich zwingen, zur Armee zu gehen? Oder eine Aufnahme am Gymnasium davon abhängig machen, wie parteitreu jemand war?
Doch da war auch Milena selbst, wie sie erzählte, wie sie mich angeschaut hatte. Und wie sie gelacht hatte. Ihr Lachen in meinem Ohr brachte mich dazu, zu schmunzeln, denn es klang nicht nur irre schön, sondern war auch sehr ansteckend. Und ihre Augen waren wie das Meer – je nach Lichteinfall mehr grün oder mehr blau.
Keine Ahnung, was die Leute neben mir in der Bahn dachten, war mir auch egal.
Ich starrte weiterhin lächelnd durch die Scheibe, an die jetzt feine Regentropfen sprühten. Abschiedstränen?
Wieder in Zehlendorf angekommen, war das Unwetter in vollem Gange. Der Sturm zerrte an den Bäumen, Regen peitschte mir ins Gesicht. Die Feuerwehr brauste an mir vorbei, wahrscheinlich war irgendwo ein Baum umgekippt oder ein Keller vollgelaufen.
Offenbar war das schon der Vorbote dessen, was mich zu Hause erwartete, denn kaum war ich durch die Tür, schlug mir Eiseskälte entgegen. Ich konnte nicht einmal sagen, wieso, aber irgendwie wirkten der Flur und alles andere bedrückend auf mich.
»Claudius!« Mein Vater trat mir entgegen und baute sich vor mir auf. Hatte er etwa auf mich gewartet? Was war mit seiner Arbeit, von der kam er doch nie früher als um zehn nach Hause. »Wie war es in der Uni?«
Er wusste es. Ich spürte deutlich, dass er es wusste. Aber vielleicht kam ich ja noch irgendwie durch.
»Langweilig«, antwortete ich, denn ich ging davon aus, dass es genau das geworden wäre – und mein Vater genau das von mir zu hören erwartete. Und wenn ich nun in mein Zimmer ging und so tat, als ob? Als ich an ihm vorbei wollte, hielt er meinen Arm fest.
»Wo hast du dich den ganzen Tag rumgetrieben?«, zischte er mich an, sodass ein paar Spucketröpfchen auf meinen Wangen landeten. »Glaub nicht, dass ich nicht weiß, dass du gleich wieder aus der Uni rausgelaufen bist, als würde es brennen!«
Wer mochte ihm das gesteckt haben? Der Mann, den ich beinahe umgelaufen hatte? War das etwa einer seiner Freunde? Hatte er ihn vielleicht beauftragt, nach mir zu sehen?
Mein Magen wurde auf einmal bleischwer.
»Das ist meine Sache«, antwortete ich trotzig, denn ich wollte ihm nicht erzählen, dass ich in Ostberlin gewesen war, um ein Mädchen zu treffen. Das, was er mir dafür erzählt hätte, wäre sicher schlimmer geworden, als das, was jetzt folgte.
»So, das ist deine Sache?« Seine Stimme wurde drohend. Gleich würde er wieder mit den Beinen unter dem Tisch ankommen. Ich fragte mich manchmal, ob Großvater das auch immer gesagt hatte, wenn sein Sohn nicht machen wollte, was er seiner Meinung nach sollte. Diesen Eindruck hatte er nämlich nie auf mich gemacht.
»Ich sage dir, was deine Sache sein sollte!« Er hob den Finger, als wollte er gleich mit einer Anklagerede loslegen. »Du solltest dir endlich darüber klar werden, was du aus deinem Leben machen willst. Ich werde es nicht dulden, dass du zum Gammler wirst!«
»Wer sagt denn, dass ich das werden will?«, fuhr ich ihn an. »Ich will nur nicht Anwalt werden, das ist alles! Und auch nicht Arzt oder sonst was, sondern Musiker!«
»Musiker?« Meinem Vater wich das Blut aus dem Gesicht, und ich bereute in diesem Augenblick zutiefst, ihm das verraten zu haben.
»Musiker?«, wiederholte er, schüttelte den Kopf und lachte dann auf, als hätte er den Verstand verloren.
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