Und morgen am Meer
»Du nimmst mich auf den Arm, Junge, oder? Du kannst doch nicht allen Ernstes in Erwägung ziehen, Musiker zu werden!«
»Und warum nicht?«
»Weil das alles Hungerleider sind! Sie lungern am Bahnhof rum, schütten sich mit Drogen zu und kommen früher oder später unter die Räder!«
»Ich werde nicht unter die Räder kommen, so weit müsstest du mich doch kennen!«
Mein Vater machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich werde nicht zulassen, dass du diesen Weg einschlägst! Ende der Diskussion!«
Ich wollte ihn gerade darauf hinweisen, dass das nicht das Ende war. Dass ich mittlerweile achtzehn war und nur noch eine Prüfung von meinem Abi entfernt und dass meine Tage in seinem Haus eh gezählt waren. Doch da kam jemand die Treppe hoch und die Haustür öffnete sich.
Mutter, eben noch ein leises Summen auf den Lippen, stockte im Türrahmen, als sie uns beide sah. Verwirrt blickte sie zwischen uns hin und her.
Mein Vater war zur Salzsäule erstarrt. Noch immer sah er fahl aus und wirkte nun, als würde er jeden Augenblick platzen.
Ich vergrub meine Hände in den Hosentaschen.
Meine Mutter mochte es nicht, wenn wir uns stritten, und da mein Vater meine Mutter nicht ärgern wollte, weil sie es in den vergangenen Monaten seit dem Tod ihrer Schwester nicht leicht gehabt hatte, ließ er meist von mir ab, wenn sie dazukam.
»Was ist denn los?«, fragte sie, denn natürlich war sie nicht blind und bekam mit, wenn etwas nicht stimmte.
»Claudius und ich hatten eine Meinungsverschiedenheit«, antwortete er steif und warf mir einen warnenden Blick zu. »Aber ich glaube, ihm ist jetzt klar, was er zu tun hat.«
Meine Mutter sah mich verwirrt an. Genauso wie mein Vater wünschte sie sich, dass ich Anwalt wurde, dass ich in seine Kanzlei einstieg. Doch ich wusste, dass sie es mir auch nicht übel nehmen würde, wenn ich einen anderen Weg ging.
»Na ja«, machte mein Vater, jetzt beinahe etwas verlegen. Wir drei standen immer noch im Treppenhaus und wussten nichts miteinander anzufangen. »Geh nach oben und denk über das nach, was ich dir gesagt habe.«
Sein steinharter Blick traf mich. Er schien nicht zu merken, dass er schon wieder mit mir redete, als wäre ich noch ein kleiner Junge.
Ich nickte der Einfachheit halber, denn ich wollte endlich aus dieser peinlichen Situation raus, nach oben, wo ich an Milena denken konnte. Milena, die ich wiedersehen würde, koste es, was es wolle.
Ich nickte und stiefelte die Treppe hinauf.
Dort legte ich das restliche DDR -Geld auf den Tisch. Was ich damit anfangen sollte, wusste ich nicht. Aber vielleicht konnte ich ja mal mit Milena essen gehen, wenn ich genug zusammenhatte. Doch wohin? Etwa in dieses Lokal, in dem es Broiler gab? Nein, damit würde ich sie eher verschrecken.
Ich legte mich auf mein Bett und starrte an die Decke. Ob sie inzwischen die Kassette schon gehört und gemerkt hatte, was ich auf ihr Band geschmuggelt hatte? Da war es wieder, das Grinsen. Ich stellte mir vor, wie sie die Kassette in ihren Rekorder steckte, gespannt lauschte und dann …
»Claudius!«, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken. Mein Vater war es nicht, auch nicht meine Mutter. Wenig später flog ein Kiesel gegen mein Fenster. Max! Was suchte der hier? Mitten im Regen! Und warum kam er nicht zur Tür? Hatte mein Vater ihn weggeschickt? Das wär’s ja noch, wen bei Unwetter nicht reinzulassen.
Während ein zweiter Kiesel flog und ich nur hoffte, dass mein Vater das nicht mitbekam, stürmte ich zum Fenster und riss es auf. Sofort klatschte mir der Wind den Regen ins Gesicht.
»Sag mal, spinnst du!«, rief ich, bevor ich Max richtig sehen konnte. Er stand am Gartenzaun, wie damals, als ich von meinen Eltern Hausarrest bekommen hatte, weil ich über den Zaun des Nachbarn geklettert war und mir ein paar Äpfel stibitzt hatte. Das Wasser klebte Jeans und Shirt an seinen Körper, es tropfte aus seinen Haaren.
»Mach mal den Fernseher an!«, rief er, irgendwie vollkommen aufgedreht vor Freude. Das Unwetter schien ihm nichts auszumachen.
»Und was gibt es da zu sehen?«
»Wenn du Glück hast, Nachrichten. Und wenn du kein Glück hast und was anderes siehst, dann komm runter, dann sag ich’s dir!«
»Willst du nicht reinkommen?«
»Nee, lass mal, schau nach, ob du Nachrichten kriegst!«
Ich schaltete den kleinen Fernseher in meinem Zimmer an. Nachrichten waren natürlich gerade vorbei, auf keinem Sender liefen mehr welche. Ich kehrte zum Fenster zurück.
»Pech gehabt, also, was
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