Und morgen am Meer
Abendbrot fernsahen – weshalb ich die Vorabendserien wie »Ein Colt für alle Fälle«, »Trio mit vier Fäusten« oder »Matlock« nur dann schauen konnte, wenn Papa zur Nachtschicht war.
»Was gibt es denn Wichtiges?«, fragte ich und wunderte mich, dass er die Aktuelle Kamera mit einem ärgerlichen Brummen ausschaltete und den Stellknopf so lange drehte, bis er die ARD drin hatte.
Dort lief noch irgendeine Werbung, doch dann rückten die Zeiger auf acht Uhr.
»Papa, was …«, setzte ich an, während der Nachrichtensprecher die Zuschauer begrüßte. Und dann kam es.
»Am heutigen Tag durchtrennten der Außenminister Österreichs, Alois Mock, und der Außenminister Ungarns, Gyula Horn, den Grenzzaun zwischen ihren beiden Ländern nahe der Stadt Sopron …«
Das war doch nicht möglich! Ungarn öffnete seine Grenzen gegenüber dem Klassenfeind? Das war die Nachricht des Tages!
»Das haben sie auf Arbeit erzählt«, murmelte Papa erschüttert, während über den Schwarz-Weiß-Bildschirm Aufnahmen des Zaunes und der beiden Männer, die ihn geöffnet hatten, flimmerten. »Ich wollte es nicht glauben.«
Der Bericht ging weiter, zeigte nun Leute in Trabis und Wartburgs, die munter über die Grenze tuckerten.
In den vergangenen Wochen war in den Westnachrichten öfter von Leuten berichtet worden, die über die ungarisch-österreichische Grenze geflohen waren. Nun gab es diese Grenze nicht mehr.
Was ich davon halten sollte? Ich wusste es nicht. Nur zu gern wollte ich überallhin reisen, besonders nach Verona und ans Mittelmeer. Vielleicht auch weiter in die Sahara, nach Afrika oder nach Asien.
Doch ich wollte auch Berlin nicht verlassen. Hier waren meine Freunde, meine Familie. Könnte ich sie einfach im Stich lassen?
Aber vielleicht zeigte die Aktion in Ungarn ja auch Wirkung hier bei uns. Vielleicht wurde irgendwann die Mauer in Richtung Westberlin geöffnet.
Es erschien mir absurd, aber das Erste, was mir einfiel, war, dass ich dann Claudius besuchen und ihm sagen könnte, wie klasse ich die Aufnahme von David Bowie fand.
Papa schien das alles aber nicht klasse zu finden. Während er die ausreisenden DDR -Bürger beobachtete, presste er die Lippen zusammen. Auf einmal wirkte er, als müsste er irgendeinen ganz furchtbaren Albtraum noch mal durchleben.
Als ich ihn fragte, was los sei, sprang er auf und schaltete den Fernseher ab.
»Wir sollten Abendbrot essen«, sagte er schroff und ging, ohne mich noch einmal anzusehen, in die Küche. Ich hätte schwören können, dass sich seine Stimme kloßig anhörte.
In solchen Augenblicken war es besser, ihn nicht zu ärgern, denn schnell konnte sich der Zorn, den er auf eine unbekannte Sache empfand, auf mich richten. Ich hatte keine Lust, mich mit ihm in die Haare zu bekommen, nicht, nachdem ich Claudius kennengelernt hatte.
Der Junge aus dem Westen. War das ein Omen gewesen?
In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich lag halb unter meiner Decke – ganz ohne konnte ich auch im Sommer nicht schlafen –, starrte an die Decke und kaute abwesend auf dem Zipfel herum.
Zuerst dachte ich, dass das an den Bildern liegen würde, die ich im Fernsehen gesehen hatte, all die Leute, die der DDR den Rücken gekehrt hatten.
Doch wenn ich ehrlich war, lag es ausschließlich an dem Jungen. Claudius! Ich kannte keinen anderen Jungen, der so hieß. Der einzige mir bekannte Junge mit einem außergewöhnlichen Namen war Lorenz. Die anderen hießen Maik, Lutz, Thomas, Andy, Oliver, Marco und so weiter. Nichts Besonderes. Kein Claudius.
Claudius, Claudius, Claudius. Wie schön dieser Name doch klang! Es war der ideale Name für eine Romanfigur, beinahe so schön wie Romeo. Vielleicht sollte ich den nächsten Helden meiner Geschichte so nennen.
Schon komisch, in der Schule gab es einige Jungs, die ganz nett waren. Die Mädchen meiner Klasse schwärmten zum Beispiel für Lutz Wachtmeister, der schon zweimal die Kinder- und Jugendspartakiade gewonnen hatte. Ich fand Lutz blöd. Und da war auch noch Thomas Müller, der ein eigenes Motorrad hatte und bei den angesagten Mädchen vorfuhr, um sie abzuholen.
Keiner dieser tollen Jungs ist nachts durch meine Gedanken gegeistert. Aber Claudius. Claudius, der als Musiker durch die Welt ziehen wollte.
Die Welt! Schon lange hatte ich nicht mehr daran gedacht, dass ich mal nach Italien reisen wollte. Das Land von Romeo und Julia, das Land, das ich nur aus Filmen kannte, bei denen ich mir die Farbe hinzudichten musste.
Verona …
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