Und morgen am Meer
gibt’s?«
Ich fragte mich, ob Max was getrunken hatte und er deshalb so aufgekratzt war. Was sollte in den Nachrichten schon laufen? Dass die Arbeitslosenzahlen im Sommer etwas gesunken waren, konnte doch nicht der Grund für solch eine Freude sein!
»Komm runter, dann erzähl ich es dir!«
»Na gut!«, schnaufte ich, denn was konnte schon so wichtig sein, dass er hier aufkreuzte und Steine gegen mein Fenster warf? Und das mitten im Regen.
Auf dem Weg nach unten hörte ich, dass Mutter den Fernseher im Wohnzimmer laufen hatte. Vater war sicher wieder in seinem Arbeitszimmer, also konnte sie ungestört irgendwelche Filme gucken, ohne sich sein Genörgel anzuhören.
Ich huschte nach draußen, in der Hoffnung, dass Max rumgekommen wäre. Doch er stand noch immer an der Stelle des Zaunes, von wo aus er die Steine geworfen hatte.
Innerhalb weniger Augenblicke war auch ich vollkommen durchnässt.
»Sag mal, spinnst du?«, fragte ich ihn empört. »Was ist so wichtig, dass du im Regen stehen willst?«
Seine roten Wangen und glühenden Ohren ließen den Verdacht aufkommen, dass er was getrunken haben musste – oder irgendwelches Zeug geraucht, das Kalle ihm vorbeigebracht hatte.
»Du wirst es nicht glauben!« Max tänzelte auf der Stelle herum. »Ich dachte schon, ey, Nachrichten, wie langweilig, aber sie haben es gleich als Erstes gebracht. Ich kann es nicht glauben!«
Und was er mir da erzählte, konnte ich dann auch kaum glauben. Die sollen tatsächlich den Grenzzaun zwischen Österreich und Ungarn aufgeschnitten haben?
»Das gibt’s nicht, oder?«, fragte ich ihn.
»Denkst du, ich verkohl dich? Nein, es ist wahr! Die Österreicher und Ungarn haben ein Abkommen darüber getroffen. Und die aus dem Osten strömen in Scharen nach Budapest.«
Sofort musste ich an Milena denken. Am liebsten wäre ich losgelaufen und hätte sie angerufen, aber das war vollkommen unmöglich. Ein Teil des Eisernen Vorhangs war auf! Vielleicht bestand ja Hoffnung, dass auch eines Tages die Mauer fiel und sie bei mir sein konnte?
Max schien diese Hoffnung jedenfalls für seine Verwandten zu haben. Er sprang noch eine Weile vor mir rum wie auf Speed, dann überredete ich ihn doch, mit reinzukommen und eine Tasse Tee mit mir zu trinken.
Milena
War das alles wirklich echt gewesen? Als ich heimging, durch den beginnenden Nieselregen, fragte ich mich, ob ich tatsächlich mit einem Jungen aus dem Westen gesprochen hatte. Musste ich wohl, denn die Kassette steckte in meiner Tasche.
Als ich in meinem Zimmer ankam, zitterten meine Hände vor Aufregung. Ich schob die Kassette in den Rekorder, drückte auf Start – und hörte nur meine eigene Aufnahme. Für einen Moment fühlte ich mich veräppelt, doch dann merkte ich, dass ich vor lauter Aufregung die falsche Seite eingelegt hatte.
Auf der A-Seite war bei meiner Aufnahme ein kleiner Rest Band übrig geblieben – dort hatte Thomas Anders zum Glück nicht von Cherry Lady oder sonst wem gesungen, also hatte ich es frei gelassen, weil ich fürchtete, dass bei einem Song das Ende auf der Strecke bleiben würde.
Ich wartete also Nick Kamen ab und …
Gitarren, ein heulender Synthesizer … Das war Heroes von David Bowie! Warum hatte er es noch einmal aufgenommen?
Diese Version klang wesentlich besser, als hätte er sie direkt von Platte überspielt, aber …
David Bowie sang das Lied auf Deutsch!
Ich war platt! Natürlich kannte ich die Version, doch vorher war es mir nie gelungen, sie aufzunehmen. Entweder wurde nur die englische Version gespielt oder es gab irgendeine Störung, wenn doch mal die deutsche Version lief.
Gebannt lauschte ich dem Lied, ließ die Musik in mich einsickern. Bowies Deutsch war ziemlich schlecht, aber man konnte es verstehen – und eine Gänsehaut überzog meinen ganzen Körper, als er davon sang, dass die Schüsse die Luft »rissen«, doch der Junge sein Mädchen küsst, als würde nichts geschehen.
Ich weiß nicht, warum, aber in dem Augenblick sah ich mich und Claudius vor der Mauer stehen – ein Bild, das ich schnell wieder verdrängte, denn das würde ganz gewiss nicht passieren. Aber bis das Lied zu Ende war, wurde ich diese Vorstellung nicht los. Meine Wangen glühten und ich war froh, dass mich niemand so sah.
An diesem Abend, kurz nachdem Papa von der Schicht zurück war und ich den Abendbrottisch gedeckt hatte, haben wir uns vor den Fernseher gesetzt. Ich fragte mich zunächst, was los war, denn eigentlich hatte er was dagegen, wenn wir beim
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