Und morgen am Meer
das Mittelmeer … vielleicht auch Sizilien …
Gegen Morgen musste ich dann doch eingeschlafen sein, denn ich erwachte mit dem Bettzipfel im Mund, der nun ganz vollgesabbert war. Als ich auf die Uhr sah, war es erst fünf, doch ich konnte nicht wieder einschlafen, denn sofort musste ich wieder an Claudius denken. Ob er jetzt noch in seinem Bett lag? Dass er wegen mir wach geblieben war, glaubte ich nicht, das wäre echt zu viel des Guten gewesen.
Ich stieg aus dem Bett und setzte mich auf einen Hocker vors Fenster. Über das Haus flog ein Schwarm Tauben hinweg, da es ganz still war, konnte ich ihr Flattern und Gurren hören. Dann rumorte Papa in der Küche.
Irgendwann klappte die Wohnungstür – Papa war los zu seiner Schicht. Ich gönnte mir noch einen Moment auf dem Hocker. Ob Claudius jetzt auch schon wach war? Ging er noch zur Schule?
Gut, er war achtzehn, das hatte ich in seinem Ausweis gesehen, aber er ging auf die EOS , ich meine das Gymnasium, und da musste er doch sicher auch noch was tun. Oder hatte er schon Ferien?
Zu gern hätte ich ihn das alles gefragt, aber das konnte ich nicht. Vielleicht wenn er wiederkam. Vielleicht.
Als ich Sabine an »unserer« Hausecke stehen sah, dachte ich schon, dass ich mich verspätet hätte. Erschrocken blickte ich auf die Uhr und sah, dass ich sogar noch einige Minuten zu früh war. Kein Wunder, wenn man schon um fünf wach war. Aber was suchte sie schon hier? Und warum trat sie so unruhig von einem Bein aufs andere? War irgendwas passiert?
»Hey!«, rief ich ihr zu. »Bist du aus dem Bett gefallen?«
Sabine biss sich auf die Unterlippe und zögerte.
»Na, nun raus mit der Sprache!«, forderte ich sie auf, denn es machte mich hibbelig, dass sie nicht gleich antwortete.
»War … war gestern dieser Typ bei dir … dieser Junge?«
Ich zog zunächst die Augenbrauen hoch, doch dann fiel mir wieder ein, was Claudius mir erzählt hatte.
Schlechtes Gewissen überkam mich. Eigentlich hätte ich zu Sabine gehen und ihr davon erzählen müssen – immerhin war sie meine beste Freundin. Aber das hatte ich nicht getan. Nicht weil ich es ihr verschweigen wollte. Ich hatte einfach keine Zeit gehabt. Immer wieder hatte ich mir das Zusammentreffen mit Claudius ins Gedächtnis zurückgerufen und dabei die Stunden verträumt. Ein Junge aus dem Westen! Klar liefen einige von ihnen in der Stadt rum, doch wann kam man mal dazu, mit einem zu sprechen! Und eine Kassette trug einem keiner von denen hinterher.
»Ja, er war da und hat mir die Kassette gegeben«, antwortete ich.
»Und?« Sabine starrte mich ungläubig an. »Mehr nicht? Hat er nicht mit dir geredet? Was hat er erzählt?« Ihre Augen leuchteten auf einmal vor Neugier.
»Dass er die Kassette im Zug gefunden hat und dass er herausfinden wollte, wo ich bin, weil er sie mir unbedingt zurückgeben wollte.«
Warum erzählte ich ihr nicht haarklein, worüber wir uns unterhalten hatten? Sabine hörte doch auch Westradio und sah Westfernsehen – da konnte sie unmöglich was gegen einen Jungen aus dem Westen haben. Schon gar nicht, wenn er so lieb wie Claudius war …
Doch ich konnte nicht. Kontakt mit jemandem aus dem Westen zu haben, war eigentlich kein Problem, aber dennoch sollte es niemand wissen. Jetzt jedenfalls noch nicht. Außerdem wusste ich ja nicht mal, ob ich ihn wiedersehen würde. Er hatte es zwar versprochen, aber möglicherweise schon wieder vergessen, als er über die Grenze war.
»Er hat mir zur Entschädigung ein Buch mitgebracht«, berichtete ich schließlich, denn Sabine sah mich weiterhin bohrend an. Das war doch harmlos, oder?
»Ein Buch?«, wunderte sie sich. »Was für ein Buch?«
»›Dshamilja‹ von Tschingis Aitmatow.«
Sabine schnappte nach Luft, als hätte ich ihr gerade gebeichtet, dass er mir eine Flasche Kristall-Wodka mitgebracht habe.
»Das kriegen wir in der Zehnten in der Schule!«
War das so? Ich hatte keine Ahnung, aber wenn Sabine das sagte, musste es stimmen.
»Hast du schon mal reingelesen?«, fragte sie, und ich erkannte in ihrem Blick den Wunsch, das Buch in die Hand zu bekommen, es zu betrachten und darin zu lesen.
»Nein, bisher nicht.« Denn ich hatte damit zu tun gehabt, an Claudius zu denken. »Aber das mache ich in den Ferien. Da habe ich genug Zeit.«
Sabine war immer noch nicht zufrieden.
»Also gut, ja, ich finde ihn süß, und es wäre toll, wenn ich ihn wiedersehen könnte. Aber er wohnt am anderen Ende von Berlin und wahrscheinlich hat er mich schon
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