Und morgen am Meer
Mal sah!
Und noch schlimmer, ich konnte ihm nicht mal was sagen wie: Das kriegen wir schon hin! Oder: Warte ab, das wird hier noch alles anders. Die Grenze in Ungarn mochte offen sein, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sich die Mauer rings um uns herum auch öffnen würde.
»Wenn du es mir erlaubst und keinen Ärger bekommst, werde ich dir schreiben«, sagte Claudius nach kurzem Zögern und legte dann sanft die Hände um mein Gesicht. »Und du schreibst mir. So können wir uns wenigstens erzählen, was bei uns so vorgeht, welche Musik wir hören und so weiter.«
Ärger würde ich sicher bekommen, wenn jemand den Brief abfing und feststellte, dass ich »nichtsozialistische Kontakte« hatte. Aber das war mir in diesem Augenblick vollkommen egal. Ich wollte so viel wie möglich von Claudius. Und wenn es Briefe waren. Ein Brieffreund im Westen – das war doch klasse! Also hielt ich meine Klappe und nickte nur.
»Warte, ich schreib dir die Adresse auf.« Er kramte kurz in seiner Hosentasche und zog dann ein Kaugummipapier und einen Bleistiftstummel hervor. Interessant, wer weiß, was er noch so in seiner Tasche hatte …
»Hier.« Als er mir den Zettel reichte, fügte er augenzwinkernd hinzu: »Deine Adresse kenne ich ja.«
Ich betrachtete das Papier, von dem noch ein leichter Pfefferminzgeruch ausging. Eine Adresse in Zehlendorf, Westberlin!
»Und wer von uns fängt an?«, fragte ich, nachdem ich das Kaugummipapier in die Tasche geschoben hatte.
»Wie wär’s, wenn ich anfange?«, fragte Claudius zurück. »Es gibt so viele Dinge, die ich dir zeigen und erzählen will. Ich habe ’ne Polaroid, da kann ich dir sogar Fotos von mir und meinen Freunden und von zu Hause schicken. Von meiner Seite der Stadt.«
»Oh ja! Eine Stadtführung aus dem Briefumschlag! Aber ich fürchte, ich kann dir nicht so schnell Bilder schicken, ich habe keine Polaroid. Höchstens ’ne alte Kinderkamera, und ob das mit den Farbfotos klappt, weiß ich auch nicht, denn es gibt nicht immer Farbfilme.«
»Dann schickst du mir eben welche in Schwarz-Weiß. Das hat so was Künstlerisches.«
»Meinst du?«
»Bei uns gibt es viele Galerien, die Schwarz-Weiß-Fotos ausstellen. Hast du schon mal was von Helmut Newton gehört?«
»Ist das ein Nachkomme von Isaac?«, fragte ich zurück, worauf Claudius in schallendes Gelächter ausbrach.
»Du bist wirklich witzig«, sagte er, und ehe ich mich’s versah, zog er mich an sich und umarmte mich ganz fest.
Zunächst fragte ich mich, ob er mir die Luft abdrücken wollte, doch dann spürte ich seinen Körper an meinem und mir wurde ganz seltsam zumute. Noch nie war ich einem Jungen so nahe gewesen. Nicht mal, als ich mich mit dem bescheuerten Matze aus der Parallelklasse gekloppt hatte.
Und das hier war wesentlich angenehmer als eine Schlägerei mit einem Jungen, der nicht aufhören wollte, mir an den Zöpfen zu ziehen.
Am liebsten hätte ich Claudius gar nicht mehr losgelassen. Doch die Zeit verging, und ebenso wie Claudius musste auch ich zurück. Also lösten wir uns wieder voneinander und sahen uns an.
»Und was bitte schön ist so witzig an mir?«, fragte ich, denn ich wusste noch immer nicht, wer dieser Helmut Newton war.
»Dass du für manche Dinge ganz eigene Erklärungen und Wörter hast. Niemand bei uns würde darauf kommen, Helmut Newton mit Isaac Newton in Verbindung zu bringen.«
»Wir hatten Isaac in der Schule«, entgegnete ich, aber da sah er aus, als wollte er gleich wieder loslachen. Ich trat ihm dafür kurz und nicht allzu fest gegen das Schienbein.
»He, lach mich nicht aus!«
»Aua! Ich lach dich doch nur an. Und darüber, dass du so lustig bist.«
So, wie seine Augen strahlten, glaubte ich es ihm ausnahmsweise.
14. Juli 1989
Milena
Immer, wenn ich auf der Straße ein Fahrrad hörte, schaute ich nach unten, in der Annahme, dass es die Post war. Meist war es Fehlalarm, viele Leute fuhren mit dem Fahrrad durch die Stadt, und die meisten Fahrräder hörten sich so klapprig an wie das des Postboten, der sich mit seinen Taschen die Wichertstraße entlangmühte.
Doch dann war es endlich so weit. Ich erkannte Herrn Kasulke, der umständlich in seiner Tasche kramte und schließlich durch die Haustür trat.
Hatte er was für mich? Ich hoffte es so sehr! Zwar hatte ich Claudius erst vor fünf Tagen gesehen, aber er fehlte mir schrecklich – und außerdem wollte er mir ja gleich schreiben. Aufgeregt ging ich auf dem Balkon hin und her, spähte immer wieder nach
Weitere Kostenlose Bücher