Und morgen am Meer
hatte nun endlich ein Bild von Claudius. Auch wenn es ein wenig komisch war, er war es, dessen Gesicht in die Kamera schaute, und sein Gesicht war so groß, dass ich die Wimpern an seinen Augen zählen konnte.
Das Gartenbild war zwar sehr hübsch, aber es interessierte mich nicht weiter. Doch Claudius’ Bild starrte ich stundenlang an, bis ich es schließlich zwischen die Seiten von »Dshamilja« schob. Auch den Brief versteckte ich zwischen meinen Büchern, Papa musste ihn nicht unbedingt sehen.
Another Brick In The Wall
21. Juli 1989. Abends.
Milena
»Komm schon«, redete ich auf mein Radio ein, während ich versuchte, Empfang zu bekommen. Wieder einmal streikte es. Wieder einmal konnte es sich für keinen Sender entscheiden. Dabei wollte ich etwas aufnehmen – diesmal für Claudius.
Mittlerweile wurde es dunkel, und ich hoffte auf die Nacht, in der seltsamerweise auch die störrischen Sender klar wurden, so als hätte man einen Störsender abgeschaltet. Gab es so was vielleicht an der Mauer in der Schönhauser Allee?
Im Wohnzimmer hörte ich den Fernseher. Papa hatte gefragt, ob ich mit ihm schauen wollte, doch ich hatte abgelehnt. Das, was mich interessierte, schaltete er ja doch nicht an. Dann konnte ich lieber Radio hören.
Ich wollte so gern mehr über die Flüchtlinge in Ungarn erfahren. Papa sah sich seit der Nachricht mit den Ungarn-Flüchtlingen aber keine Westnachrichten mehr an. Das tat ich dann am Nachmittag, wenn er nicht da war, und manchmal lief es mir bei den Bildern eiskalt den Rücken runter. Besonders schlimm fand ich, dass unsere Aktuelle Kamera das Geschehen in Leipzig und Ungarn vollkommen ignorierte. Es wurde von Parteitagsbeschlüssen, Staatsbesuchen und Planübererfüllungen geschwafelt. Nichts, was mich interessierte. Da hätte ich dann auch gleich wieder eine Wandzeitung für Frau Heinrich machen können.
Als ich den Radiosender halbwegs klar drin hatte, lief natürlich nichts, was ich gern für Claudius aufgenommen hätte. Ich ließ es trotzdem an und holte Claudius’ Brief noch einmal hervor. Heute Vormittag hatte ich begonnen, »Dshamilja« zu lesen, eine sehr schöne Geschichte, wenngleich darin auch eine Menge Kommunismus vorkam. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass die Menschen damals noch wirklich daran geglaubt hatten. Wie würde die Geschichte wohl heute aussehen?
Jedenfalls benutzte ich Claudius’ Bilder als Lesezeichen, während ich den Brief zwischen den Büchern aufbewahrte. Keine Ahnung, vor wem ich sie versteckte, Papa ging eh nicht in mein Zimmer, aber es verlieh der Sache noch einen zusätzlichen Reiz. Ich bekam Briefe aus dem Westen – und versteckte sie, als würde jeden Moment das MfS durch die Tür stürmen.
Das Klingeln an der Tür hörte ich nicht gleich.
Erst als Papa vom Klo her rief: »Milena, gehst du mal?«, bekam ich es mit. Schnell schob ich den Brief zwischen die Bücher und lief zur Tür.
Es passierte öfter mal, dass jemand im Haus zu meinem Vater kam und fragte, ob er etwas reparieren konnte.
Doch diesmal war der Besuch unerwartet. Frau Heinrich, meine Klassenlehrerin, stand vor der Tür. Zu Ferienzeiten!
Entgeistert sah ich sie an.
Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, sie war ziemlich blass um die Nase, straffte sich aber, als sie mich sah.
»Guten Abend, Milena, ist dein Vater da?«
Das klang so förmlich, als wäre sie wegen des jährlichen Elternbesuchs hier. Was konnte sie wollen?
»Ja, er ist da«, antwortete ich wahrheitsgemäß und hätte mich im nächsten Moment dafür ohrfeigen können. Wenn ich Nein gesagt hätte, wäre sie vielleicht wieder abgehauen. »Kommen Sie rein, er ist nur kurz im Bad.«
Frau Heinrich war nicht das erste Mal hier. Jedes Schuljahr ließ sie sich mindestens einmal blicken, um mit meinem Vater zu sprechen. Meist fand der Besuch in den ersten Wochen nach Unterrichtsbeginn statt. Doch jetzt waren Ferien.
»Milena, wer …« Mein Vater, der gerade aus der Tür kam und noch an seiner Hose herumnestelte, starrte Frau Heinrich überrascht an. Und Frau Heinrich schien nicht weniger überrascht zu sein. Bei Elternsprechstunden und Hausbesuchen sah sie meinen Vater immer in Hemd und einer guten Hose, manchmal auch in Nietenhosen. Heute Abend, nach der Schicht, hatte er keine Lust gehabt sich fein zu machen – kein Wunder, denn wer rechnete schon damit, dass die Klassenlehrerin mitten in den Ferien auftauchte? So trat er ihr in Unterhemd und Arbeitshose entgegen.
»Frau Heinrich, was führt Sie
Weitere Kostenlose Bücher