Und morgen am Meer
unten. Dass der Postbote nicht gleich rauskam, war eigentlich ein gutes Zeichen – dann hatte er vielleicht viel abzugeben. Aber es konnte auch bedeuten, dass Frau Schneider ihn erwischt hatte und mit ihm ein kleines Schwätzchen hielt.
Als er endlich wieder rauskam, stürmte ich sofort aus der Wohnung und rannte die Treppe runter. Es war möglich, dass ich heute wieder enttäuscht nach oben ging, aber irgendwie hatte ich so ein Gefühl. Es war, als wäre heute ein Sonnenstrahl mehr durch die Wolken gebrochen. Schon heute Morgen war mir so komisch gewesen, und jetzt klopfte mein Herz noch schneller als an den Tagen zuvor. Mit zitternden Händen versuchte ich, den Schlüssel ins Briefkastenschloss zu schieben. Seit wir es mit ein wenig Speiseöl geschmiert hatten, ließ es sich besser schließen.
Tatsächlich entdeckte ich hinter dem
Neuen Deutschland
, das mein Vater immer las, einen schmucklosen weißen Umschlag.
Als ich ihn umdrehte, schlug ich die Hand vor den Mund. Claudius! Der Brief war von Claudius!
»Na, Mädel, hast einen Brief von einem Verehrer bekommen?«, fragte die alte Frau Schneider, die ebenfalls schlüsselklappernd zu den Briefkästen kam.
Manchmal fragte ich mich, ob sie Gedanken lesen konnte. Oder hatte sie Claudius und mich vor der Tür gesehen? Möglich war es, aber sie wüsste dann noch immer nicht, dass er aus dem Westen war.
»Frau Schneider, wo denken Sie hin, ich geh doch noch zur Schule!«, antwortete ich, eine blöde Antwort, die mir auch die alte Frau nicht abkaufte. Sie sagte aber nichts, schüttelte nur weise mit dem Kopf und zog aus ihrem Briefkasten ihre
BZ
, mit der sie wieder hinter ihrer Tür verschwand.
Liebe Milena,
ich weiß nicht, wann dich der Brief erreichen wird. Auf jeden Fall sitze ich jetzt hier, kurz nachdem ich wieder zu Hause angekommen bin, und schreibe dir.
Eigentlich ist es komisch, denn Briefeschreiben ist nicht so mein Ding. Aber es geht besser, als ich dachte. Das liegt an dir, da bin ich sicher. Obwohl es erst ein paar Stunden her ist, dass ich dich gesehen habe, vermisse ich dich schon wieder sehr, so sehr, dass ich schon fast gewillt wäre, eine Bank zu überfallen, um die 25 Mark für den Zwangsumtausch zu bekommen.
Klar, ich könnte meine Eltern fragen, aber von denen habe ich dir ja schon erzählt. Mein Vater würde explodieren,
wenn er wüsste, dass ich ein Mädchen aus der DDR kenne –
und vielleicht mit ihr befreundet bin. Er würde dir unterstellen, über mich nur in den Westen kommen zu wollen.
Nein, ich will kein Geld von ihnen. Ich werde alles selbst erarbeiten und hoffe, dass du solange Geduld hast. Eines Tages werde ich dich vielleicht mitnehmen und dir meine Seite der Stadt zeigen können. Und wer weiß, vielleicht lasse ich dich dann nicht mehr weg. Bis dahin werde ich versuchen, so oft wie möglich zu dir zu kommen.
Im Brief solltest du, wenn alles gut gegangen ist, ein paar Fotos finden. Auf einem bin ich vor der Garage zu sehen, im Hintergrund stehen meine Gitarre und meine Maschine. Es sieht ein bisschen komisch aus, aber Polaroid-Kameras haben nun mal keinen Selbstauslöser, deshalb stehe ich so dicht davor. Das andere Bild ist von unserem Garten – unserer Datsche, wenn man so will. Sieht aus wie in einem Schloss, nicht wahr? Früher habe ich das immer kitschig gefunden, mittlerweile gefällt es mir aber ganz gut. Wenn man im Gartenhaus sitzt, ist man vom Wohnhaus aus kaum zu sehen, was manchmal von Vorteil ist. Aber dazu erzähle ich dir mehr, wenn ich dich wieder besuchen komme. Bis zum Monatsende muss ich noch warten, bis ich wieder Lohn bekomme, diesmal ist es aber so viel, dass ich locker dreimal zu dir kommen kann. Ist das nicht toll? In den nächsten Briefen können wir doch mal Termine ausmachen, vielleicht kannst du ja auch mal zum Alex oder zur Friedrichstraße kommen, dann haben wir mehr Zeit.
So, jetzt muss ich erst mal Schluss machen. Ich freue mich urst auf Post von dir. (Habe ich das Wort richtig verwendet? Ich hab es hin und wieder von dir gehört und mir meinen Reim drauf gemacht.)
Sei lieb gegrüßt von deinem Claudius
Als ich den Brief gelesen hatte, kam ich aus dem Grinsen nicht mehr heraus. Claudius hatte auch beim Schreiben eine sehr nette Art, und erst mal seine Fotos! Bilder wie diese hatte ich höchstens in der Polaroid-Werbung gesehen, aber nie gedacht, dass sie so dick sind und sich so seltsam anfühlen. Die Aufnahmen waren ein wenig verwaschen, aber dafür farbig und sehr interessant. Ich
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