Und morgen am Meer
abhauen. Und wer weiß, was er dir da gezeigt hat.«
»Dann glaubst du also, dass es nicht möglich wäre?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe mich noch nie damit beschäftigt. Aber ich kann mir vorstellen, dass es sehr, sehr schwer wäre, dort durchzukommen. Und so ein Held ist Lorenz nicht, wahrscheinlich wollte er vor dir nur großtun.«
Entgegen meiner Worte hatte ich aber plötzlich Angst. Angst, dass Lorenz ernst machen könnte. Ich erinnerte mich wieder an unser letztes Gespräch und mir wurde mulmig zumute. Ich wollte nicht, dass ihm was passierte. Doch wenn ich ihn sah, konnte ich kaum versuchen, ihm das auszureden, dann würde er wissen, dass Claudius gepetzt hatte.
Seufzend blickte ich in meinen Eisbecher, in dem noch etwas von milchigen Schlieren durchzogener Erdbeersaft schwamm. Hätte Claudius mir schon früher davon erzählt, hätte ich ihn wahrscheinlich gar nicht runterbekommen.
»Wegen der Maschine«, begann Claudius auf dem Weg zur Bahn zögerlich.
»Was meinst du?«, fragte ich, denn ich konnte mir darauf zunächst keinen Reim machen. Dann erinnerte ich mich wieder an das Gesicht, das er gezogen hatte, als ich ihn nach seinem Motorrad gefragt hatte.
»Es ist so, ich bin schon lange nicht mehr gefahren«, sagte er, und wieder sah ich, dass sich etwas in seinem Blick veränderte. Was war los?
»Warum nicht?«, fragte ich, bereute es aber gleich wieder, denn sein Blick durchbohrte mich regelrecht.
Erschrocken senkte ich den Blick. »’tschuldige, geht mich nichts an.«
In dem Augenblick spürte ich seine Hand auf meiner. Als ich aufsah, hatte sich sein Blick erneut verändert. Auf einmal erschien er so verletzlich, dass ich ihn am liebsten in den Arm genommen hätte. Einfach so und einfach nur, weil er so guckte.
»Du musst es mir nicht erzählen«, sagte ich leise, weil ich merkte, dass irgendwas passiert sein musste. So verhielt man sich nicht, wenn es keinen Grund dazu gab.
»Ich will es aber!« Ein wenig trotzig kamen die Worte über seine Lippen, diese weichen, vollen Lippen, an die ich in den vergangenen Tagen so oft gedacht hatte. Ich wusste nicht genau, ob meine Wangen aus schlechtem Gewissen so glühten oder weil ich, obwohl Claudius mir wahrscheinlich was Schlimmes oder zumindest Bedeutungsvolles erzählen würde, mit meinem Blick an seinen Lippen klebte und wünschte, dass sie mich küssen würden.
Seine Hand ergriff meine und er zog mich ein Stück mit sich, als befürchtete er auf der menschenleeren Straße einen unliebsamen Mithörer. Aber die Stasi hätte man schon gesehen, so auffällig unauffällig, wie sie sich benahmen.
In einem Durchgang, dessen Tür mit einem Holzkeil offen gehalten wurde, blieben wir stehen.
»Es ist so«, begann er ein wenig zögerlich. »Ich hätte um ein Haar einen kleinen Jungen totgefahren. Bevor das passieren konnte, habe ich das Motorrad umgerissen und bin auf der Straße gelandet. Dabei ging eine meiner Rippen zu Bruch, ich hatte überall blaue Flecken und Abschürfungen.«
Ich schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Claudius hatte einen Unfall gehabt! Das erschreckte mich nachträglich ziemlich, obwohl davon nichts mehr zu sehen war.
»Wann hattest du den Unfall?«, fragte ich verdattert.
»Vor etwa einem halben Jahr. Damals hatte ich meinen Führerschein gerade bekommen. Meine Maschine steht seitdem in der Garage, meine Mutter ist ganz froh, dass ich nicht mehr fahre.«
»Das wäre ich an ihrer Stelle auch«, gab ich zurück. »Aber du wirst doch bestimmt wieder fahren, oder?«
»Irgendwann bestimmt. Aber das kann dauern. Ich will nicht schon wieder jemanden in Gefahr bringen. Lieber gehe ich zu Fuß oder fahre mit der Bahn.«
»Und wenn du als Musiker in Amerika bist? Du könntest doch mit deiner Maschine durch das Land fahren.«
»Oder ich könnte trampen.«
Plötzlich zog wieder ein Schatten über seine Augen. Gab es noch irgendwas aus seiner Vergangenheit, das er mir erzählen wollte?
»Woran denkst du?«, fragte ich ihn.
»Daran, dass ich dich nicht mitnehmen kann nach Amerika.«
Das erschreckte mich ein bisschen. Ich und in Amerika! Das hatte ich mir im Leben noch nie ausgemalt. Wenn schon die BRD der Klassenfeind war, dann war Amerika mindestens der Überimperialist.
Aber auf einmal, wo Claudius davon sprach, spürte ich so ein Sehnen in der Brust. Nicht, weil ich Amerika unbedingt sehen wollte – ich wollte bei Claudius sein, egal, wo er hinging. Und das Erschreckende daran war, dass ich ihn jetzt erst zum vierten
Weitere Kostenlose Bücher