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Und morgen am Meer

Und morgen am Meer

Titel: Und morgen am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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habe. Die erfinden jede Woche ein neues, wenn es darum geht, etwas sehr Schönes oder Abgefahrenes zu beschreiben. Da ich es ja mit Worten und Büchern habe, merke ich mir diese Begriffe – wer weiß, vielleicht kannst du sie auch irgendwann mal gebrauchen.
    Und wenn du dich fragst, was ich so mache, ich sitze den ganzen Tag auf dem Balkon, lese und versuche, eigene Geschichten zu schreiben. Und ich träume von Verona und dem Mittelmeer und davon, dich wiederzusehen. Sabine fährt mit ihrem Vater noch einmal in den Urlaub, in ein FDGB-Heim (du fragst dich sicher, was das ist – erkläre ich dir) und kommt erst in einer Woche wieder.
    Deine Kassette ist übrigens sehr toll – so schöne klare Aufnahmen. Ich bin ganz neidisch, wenn ich daran denke, dass all diese Platten bei dir im Schrank stehen. Hier dauert es eine ganze Weile, bis AMIGA irgendwas davon rausbringt. Wahrscheinlich werde ich alt und grau sein, bis ich mal eine LP von A-ha oder den Pet Shop Boys in die
    Hände bekomme. Aber ich habe ja meinen »Stern«, der zu-
    verlässig aufnimmt, obwohl mein Radio immer mehr den Dienst aufgibt.
    Eigentlich würde ich dir ja gern auch mal ein Mixtape aufnehmen (so heißt das bei euch, nicht?), aber wahrscheinlich hast du all diese Lieder schon wesentlich besser gehört. Wenn du aber doch eins möchtest, schreib mir, ja?
    Ich werde wie ein Mauerblümchen hier hocken und auf dich oder deinen Brief warten.
    Sei lieb gegrüßt von deiner Milena
    Als ich die letzte Zeile gelesen hatte, bemerkte ich, dass ich ein fettes Grinsen auf dem Gesicht hatte.
    Diese seltsamen Worte, die sie manchmal benutzte, waren sehr lustig, und mir vorzustellen, wie ihre Regenwaldaugen dabei leuchteten, ließ meine Wut auf die blöde DDR und ihre Spitzel fast schon wieder verrauchen. Milena mochte vielleicht in einem Gefängnis leben, Humor hatte sie dennoch und auch ganz viel Lebensfreude. Wie würde es mir gehen, wenn ich dort leben müsste? Ich würde eher verzweifeln, da war ich sicher. Aber vielleicht hätte ich mich auch an den Käfig gewöhnt. Irgendwann hatten wir darüber in Philosophie gesprochen – wenn ein Mensch von klein auf in Zwängen festgehalten wird, gewöhnt er sich daran und will letztlich nicht mehr aus ihnen raus.
    Aber das konnte ich mir bei Milena nicht vorstellen. Ich sah immer noch vor mir, wie ihre Augen geleuchtet hatten, als sie von Verona und dem Mittelmeer gesprochen hatte. Nein, Milena würde mit mir gehen, da war ich sicher. Nur hatte ich überhaupt keine Ahnung, wie das gehen sollte.
    Den ganzen Abend überlegte ich, was ich tun sollte. Ich konnte so tun, als hätte es den aufgerissenen Brief nicht gegeben. Ich könnte ihr einfach schreiben, vollkommen unverfänglich. Doch alles in mir wehrte sich dagegen. Sie hatte ein Recht darauf, zu erfahren, dass ihre Post geöffnet wurde! Und ich musste sie auch irgendwie zur Vorsicht anhalten.
    Dann kam mir etwas anderes in den Sinn. Wenn ihr Brief geöffnet worden war und die Stasi sie auf dem Kieker hatte, würde der nächste Brief von mir wahrscheinlich gar nicht erst bei ihr ankommen.
    Der Gedanke ließ mich wie von einer Wespe gestochen vom Stuhl aufspringen und ruhelos in meinem Zimmer herumlaufen. Ich war sicher, dass Marx und Engels die Bärte ausgefallen wären, wenn sie gewusst hätten, was aus ihren Ideen gemacht worden war.
    Als ich schließlich vor dem Fenster stehen blieb und die Nachbarhäuser betrachtete, die von einer hohen Hecke umgeben waren, damit ja niemand durch die Fenster spähte, wusste ich, dass es nur einen Ausweg gab. Ich musste zu ihr fahren, gleich morgen, und sie warnen.
Milena
    Ich hatte keine Ahnung, wie ich wieder in den Gang zurückgekommen war. Nach meinem Kotzanfall musste mich jemand nach draußen geschafft haben, aber was diese Minuten betraf, hatte ich einen Filmriss. Ich wusste nur noch, dass ich mich erbrochen hatte, nichts weiter. Ich hatte keine Ahnung, ob mir jemand eine Schüssel untergestellt, mir die Haare aus dem Gesicht gehalten oder mich nach draußen geführt hatte. Alles war schwarz.
    Nun saß ich hier auf dem blöden Stuhl und hörte die beiden Männer im Büro miteinander reden. Diesmal war die Tür geschlossen und sie sprachen jetzt auch leiser, sodass ich nicht genau mitbekam, was sie sagten. Ich hörte nur Fetzen wie »es war alles ein bisschen viel«, »sie war aufgeregt«, »offenbar ging es ihr schon vorher nicht gut« und so weiter. War Kotzen jetzt auch schon ein staatsfeindlicher Akt? Immerhin hatte ich

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