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Und morgen am Meer

Und morgen am Meer

Titel: Und morgen am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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den »guten Bullen« spielte und einer den bösen.
    »Es gibt ein paar Dinge in deiner Familie«, sagte Herr Neumann, »Dinge, die den Staat ziemlich verärgert haben. Seitdem haben sie ein Auge auf euch, und bisher gab es nichts zu beanstanden.«
    Er meinte Mamas Flucht und Papas Fluchtversuch. Er sprach es nicht aus, durfte es wohl nicht, und hätte ich es nicht zufällig belauscht, hätte ich mich wohl gefragt, was er mir sagen wollte.
    »Ihr könnt froh sein, dass ihr als Familie zusammenbleiben durftet. Es hätte auch alles ganz anders kommen können.«
    Ich verstand. Papa hätte auch eingesperrt werden können. Komisch, dass das nicht passiert war. Auf Fluchtversuch stand ebenfalls Strafe. Und ohne unseren Vater wären wir in ein Heim gekommen. Wieder eine Frage mehr. Warum hatte man Papa nicht eingesperrt?
    Herr Neumann atmete tief durch, sah mich dann an, als erwartete er, dass ich Fragen stellte. Sollte ich das besser tun? Gab ich durch mein Schweigen zu, dass ich über alles im Bilde war?
    »In Ordnung, dann geh jetzt, Milena«, sagte er, beinahe schon resignierend, und wirkte, als wollte er mich in den Arm nehmen. »Und pass auf dich auf, ja? Lass dich nicht auf irgendwelche gefährlichen Dinge ein. Du hast eine wunderbare Zukunft vor dir, könntest was Besonderes werden. Gib auf dich acht.«
    »Sie auch«, entgegnete ich, bedankte mich und stieg aus.
    Herr Neumann wartete noch so lange, bis ich in der Haustür verschwunden war. Erst dann ließ er den Wartburg wieder an und fuhr davon.
    Von außen mochte es so scheinen, als wäre ich hochgegangen, doch ich lehnte an der Wand neben den Briefkästen. Die harten Steine kamen mir angenehm vor. Ich schloss die Augen und spürte, dass mir wieder die Tränen kamen. Ich ließ sie laufen und hoffte nur, dass mich so niemand sah.
    Wie gern wäre ich jetzt eine Marmorfigur gewesen, kalt und leblos, ohne Verwirrung und Angst in meinem Herzen! Und das waren nicht die einzigen Gefühle. Allmählich wusste ich gar nicht mehr, was ich alles fühlte. Zorn? Sehnsucht? Enttäuschung?
    Erst als irgendwo oben eine Tür ging, erwachte ich aus meiner Starre. Ich musste nach oben, mich sauber machen. Ich musste dieses blöde Hemd und den furchtbaren Geruch wegbekommen. Als ich es endlich die Treppe hinauf geschafft hatte, mit einem elenden Gefühl im Magen und Kotzegeschmack im Mund, erwartete mich eine Überraschung, die mich eigentlich hätte freuen sollen. Armeestiefel standen im Flur. Mirko war hier! Nur warum? Hatte seine Rückkehr auch etwas mit mir und dem Brief von Claudius zu tun? Musste er morgen auch vor irgendeinem Stasimann antanzen und erklären, ob er mir etwas von der Republikflucht meiner Mutter erzählt hatte?
    Nur einen Atemzug später schaute er aus seinem Zimmer. Noch immer trug er seine Uniform, wahrscheinlich hatte er sich erst mal auf die Post gestürzt, die hier angekommen war anstatt in der Kaserne.
    »Milena?«, fragte er verwundert und starrte auf mein FDJ -Hemd, das bei meinem Kotzanfall auch ein paar Flecken abbekommen hatte und das ich unbedingt loswerden musste. »Was ist los?«
    Vielleicht hätte ich jetzt besser ins Badezimmer gehen und mich waschen sollen. Aber aus einem plötzlichen Impuls heraus fragte ich: »Stimmt es, dass Mama rübergemacht hat?«
    Mirkos Lächeln verschwand, seine Miene wurde starr. »Was?«
    »Dass Mama in den Westen geflohen ist. Damals, als wir klein waren. Dass sie nicht in dem Auto verbrannt ist, wie alle immer behauptet haben.«
    Mein Herz, das ich vorher nicht mehr gespürt hatte, erwachte plötzlich wieder und klopfte mir bis zum Hals. Ich wollte noch etwas hinzusetzen, doch mein Puls verschluckte meine Stimme und in meiner Magengrube kniff es wieder, als hätte ich zu starken Kaffee getrunken.
    Doch wenn ich mich hier im Flur übergeben musste, war es auch egal.
    Mirko sah mich entgeistert an. »Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete er, knöpfte dann seine Uniformjacke auf, als wäre ihm erst jetzt wieder eingefallen, dass er noch darin steckte. Dann wandte er sein Gesicht ab und wollte schon wieder in seinem Zimmer verschwinden.
    »Das weißt du!«, schrie ich giftig und voller Hass, obwohl ich Mirko lieb hatte.
    Doch das, was ich vor dem Büro des Direktors aufgeschnappt hatte, entfachte eine schmerzhafte Flamme in meinem Innersten, sodass ich jetzt drauf und dran war, alles zu vergessen. Ich konnte den Gedanken, über all die Jahre hinweg angelogen worden zu sein, nicht mehr ertragen.
    »Sie ist

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