Und morgen am Meer
Speiseröhre hinaufstieg. Ich konnte nichts anderes tun, als mich vornüberzubeugen und mich nach Leibeskräften auf die flachgetretene Auslegeware zu übergeben.
Claudius
Noch ein bisschen verkatert blickte ich in den Spiegel. Wie sollte man auch aussehen nach einem Abiball, bei dem man die meisten seiner Schulkameraden zum letzten Mal auf mehr oder weniger lange Zeit sah, mit denen man sich noch mal ordentlich die Kante gab?
Mehr als eine Woche war vergangen, seit ich meinen Brief abgeschickt hatte und noch war kein Brief von Milena zurückgekommen. Möglicherweise hatte sie meinen Brief noch nicht bekommen. Ich mochte vielleicht nicht viel über die DDR wissen, doch ich hatte schon davon gehört, dass die Grenzer und die Stasi manchmal Briefe aus dem Westen durchleuchteten oder sogar öffneten. Wenn ihnen der Inhalt nicht passte, wurden die Briefe ganz einfach nicht zugestellt.
Hatte ich was geschrieben, was den Stasileuten nicht passen konnte? Ja, sicher. Ich klatschte mir vor den Kopf. Ich hatte geschrieben, dass ich ihr eines Tages meine Seite der Stadt zeigen würde. Wahrscheinlich hatte die Stasi geglaubt, dass ich sie gleich morgen aus Ostberlin abholen würde – womöglich auf ähnlich abenteuerliche Art, wie es manche DDR -Bürger schafften, in den Westen zu flüchten. Dabei wollte ich ihr nur ein wenig Hoffnung machen.
Den Vormittag verbrachte ich in der Garage, wo ich zum ersten Mal seit Langem wieder an der Maschine schraubte. Noch immer war ich nicht bereit, mich wieder in den Sattel zu schwingen, aber das, was ich Milena erzählt hatte, hatte ein Stück der Hemmungen, die ich nach dem Unfall hatte, wieder abgebaut. Im ersten Moment sah ich natürlich wieder den entsetzten Blick des kleinen Jungen vor mir, doch als ich die Augen kurz zusammenkniff, verschwand es wieder und kam auch nicht zurück, als ich den Tank berührte und mich dann dem Motor zuwandte.
Ich war dermaßen versunken in meine Tätigkeit, dass ich den Postboten beinahe nicht gehört hätte. Doch das Klappern des Briefkastens – Modell USA , also eher eine Briefröhre als ein Kasten – schreckte mich auf. Ob diesmal etwas von Milena dabei war? Rasch legte ich mein Werkzeug weg und rannte los. Es gab so viele Dinge, die ich ihr berichten wollte, besonders vom Abschlussball. Auch wenn es in meinem Schädel immer noch ein wenig dröhnte, fühlte ich mich klar genug, um die Antwort zu formulieren.
Am Tor angekommen, sah ich den Briefträger die Straße hinunterradeln. Hastig öffnete ich den Briefkasten und sah nichts weiter als die Tageszeitung, einen Katalog und eine von Papas juristischen Zeitschriften. Wieder kein Brief! Da ich schon mal am Kasten war, nahm ich die Zeitungen trotzdem heraus. Dabei fiel mir etwas vor die Füße.
Der Brief!
Zuerst hüpfte mein Herz vor Freude, dann jedoch sah ich … Jemand hatte ihn aufgeschlitzt und dann laienhaft wieder zugeklebt. So ungelenk, wie der Schnitt war, konnte es nicht Milena gewesen sein. Offenbar hatte man den Brief an der Grenze abgefangen. Und wie ich sehen konnte, war der Schnitt nicht das Einzige, was mit dem Brief angestellt worden war. Er hatte zahlreiche Knicke, so als hätte ihn jemand zusammengeknüllt und in den Papierkorb geworfen, sich das dann aber wieder überlegt und ihn dann doch über die Grenze geschickt.
Mit rasendem Herzen lief ich in die Garage und wollte den Umschlag schon fahrig aufreißen, doch dann überlegte ich es mir und schnitt ihn ganz vorsichtig mit meinem Taschenmesser auf.
Immerhin war der Brief selbst bis auf ein paar Knicke unbeschädigt. Schade, dass ich mein Fingerabdruck-Detektivset aus den YPS -Heften nicht mehr hatte! Als Kind hatte ich damit die Fingerabdrücke von mir und Max abgenommen, die wir auf irgendwelche Trinkgläser geschmiert hatten. Hätte ich dieses Set noch gehabt, hätte ich bestimmt einen Haufen Fingerabdrücke gefunden, die nicht zu Milena gehörten!
Mit einer Stinkwut im Bauch setzte ich mich auf meinen Hocker und las erst einmal, was Milena schrieb – wenn sie es denn wirklich geschrieben hatte.
Lieber Claudius,
ich hoffe, dich erreicht dieser Brief ganz schnell. Ich kann gar nicht beschreiben, was ich gefühlt habe, als ich deinen Brief im Kasten gesehen habe. Es war nicht so gut, wie dich in echt zu sehen, aber doch urst prima. (Ja, du hast »urst« richtig verwendet.) Genial, stark oder nein, mega! Wahrscheinlich wunderst du dich jetzt, aber mega ist ein Wort, das ich von den Jungs in der Zehnten aufgeschnappt
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