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Und morgen am Meer

Und morgen am Meer

Titel: Und morgen am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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rübergegangen!«, fuhr ich fort. »Sie ist rübergegangen, und Papa wollte eigentlich mitgehen, aber es hat nicht geklappt. Er hat irgendwelchen Stasibonzen versprechen müssen, mir nichts davon zu erzählen. Und du wusstest auch davon und hast mir nichts erzählt!«
    Bei den letzten Worten überschlug sich meine Stimme, ich war nicht mal sicher, ob die Worte überhaupt verständlich aus meinem Mund gekommen waren. Aber in meinem Verstand hallten sie wie Donner wider.
    Mirko war noch immer ganz blass. Seine Hand krallte sich am Türrahmen fest, als wäre ihn auf einmal schwindelig.
    »Milena, ich …«
    »Sag mir die Wahrheit! Erzähl mir, was damals passiert ist.«
    »Das kann ich nicht. Das darf ich nicht.«
    »Warum denn nicht? Warum darf ich es nicht wissen? Welche Gefahr bestünde denn, warum soll ich meine eigene Familiengeschichte nicht kennen? Irgendein fremder Kerl vom MfS, der seinen Namen nicht sagt, redet mit meinem Schuldirektor über Dinge in meiner Familie, als ginge es den was an, und ich soll davon nichts wissen? Wieso? Weil alle Angst haben, dass ich auch abhaue?«
    »Milena, so war das nicht … Und überhaupt, was hast du mit der Stasi zu tun?«
    Sollte ich es ihm sagen? Immerhin war er mein Bruder. Mein Bruder, der zwar in all den Jahren genauso geschwiegen hatte wie Papa. Doch er war stets der Einzige gewesen, dem ich alles hatte erzählen können. Hatte sich daran jetzt was geändert? Ich musste es herausfinden, also antwortete ich: »Ich habe einen Jungen kennengelernt. Aus dem Westen.«
    Mirko sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein.
    »Ja, ich weiß, es ist der Klassenfeind, aber dennoch, ich mag ihn. Er ist sehr nett. Und nicht alle im Westen laufen mit einer Pershing auf dem Rücken rum.«
    »Aber Milena, du weißt, was das bedeutet.« Mein Bruder strich sich aufgeregt die Haare aus dem Gesicht. »Ich bin bei der Armee, wenn sie nun meinen Vorgesetzten informieren.«
    »Was soll denn passieren?«, fragte ich, denn ich konnte wirklich nicht verstehen, was das Problem war. »Er ist doch nur ein Junge! Er hat gerade Abitur gemacht und möchte Musiker werden! Er will nicht mal zur Armee! Glaubt ihr wirklich, er würde kommen und hier einen Krieg anzetteln?«
    »Er ist aus dem Westen, das reicht denen schon!« Mirko begann, unruhig auf und ab zu gehen. »Wir dürfen keine Westkontakte haben, die schauen da ganz genau drauf.«
    »Meinst du die NVA ?«
    Dass Mirko nicht darauf antwortete, zerriss mich beinahe. Ich fühlte mich der Wahrheit so nahe – wenn nur nicht all diese Mauern gewesen wären, die mir die Sicht verstellten. Mauern, die mir von der Stasi vor die Nase gesetzt wurden – aber auch von meiner eigenen Familie.
    Bitte Mirko, reiß wenigstens diese eine nieder,
flehte ich innerlich. Diese eine zwischen uns.
    »Erzähl mir, was damals passiert ist!«, forderte ich. »Ich will wissen, warum das alles so ist! Bitte, Mirko, du bist doch mein Bruder.«
    Mirko wand sich noch einen Augenblick, doch meine letzten Worte schienen etwas in ihm ausgelöst zu haben, denn er sagte mit tonloser Stimme: »Ich weiß auch nicht mehr genau, was damals los war. Ich kann mich nur erinnern, dass Mama keinen Unfall hatte. Wir waren irgendwohin gefahren, ich glaube, an die Ostsee. Weder Mama noch Papa haben gesagt, wohin genau. Ich erinnere mich nur noch, dass sie mit irgendeinem Fremden gesprochen haben. Und dass der ein Boot hatte. Du warst damals noch ganz klein. Eines Morgens, ganz früh, sind wir losgefahren, du hast noch geschlafen, Mama hat dich auf dem Arm getragen. Jetzt weiß ich, wenn alles gut gegangen wäre, wärst du im Westen aufgewacht und hättest nie etwas anderes kennengelernt.«
    Die Worte trafen mich wie ein Stein an den Kopf. Im Westen aufgewacht. Wenn alles gut gegangen wäre, hätte ich mich nicht fragen müssen, wie das zwischen mir und Claudius gehen sollte. Ich hätte ihn jeden Tag sehen können. Aber es war nicht gut gegangen. Das brauchte Mirko nicht zu erzählen. Es war einfach nicht passiert.
    »Irgendwas ging schief, es gab ein großes Durcheinander. Ich weiß nicht, ob uns jemand verraten hat. Auf jeden Fall schnappte Papa uns beide und rannte los. Du bist zwischendurch wach geworden und hast geweint. Aber vermutlich weißt du davon nichts mehr.« Er sah mich an, als erwartete er eine Bestätigung, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das weißt du nicht mehr. In den folgenden Tagen passierte vieles, das ich nicht verstand. Männer kamen, es wurde

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