Und morgen am Meer
geredet.«
»Normalerweise hätte Papa ins Gefängnis gehen müssen.«
»Normalerweise ja. Aber er ging nicht. Irgendwas muss er mit den Männern beredet haben, dass sie ihn haben laufen lassen. Er hat mir nie davon erzählt, und wahrscheinlich wird er auch dir nie davon erzählen. Ich weiß nur noch, dass er zu mir kam und sagte, dass Mama ab jetzt gestorben sei. Und dass wir beide dir nie etwas davon erzählen würden.«
Ich sah in Mirkos gequältes Gesicht. Er, der eigentlich immer vorbildlich war und für den es nie infrage gestanden hatte, ob er zur NVA geht oder nicht, hatte nun das Versprechen gebrochen, das er meinem Vater gegeben hatte.
Wahrscheinlich schaute ich auch gequält drein. »Danke«, sagte ich leise, doch ich wusste, dass das noch nicht alles war. Mirkos Antwort hatte nur ein paar Steine aus der Mauer bröckeln lassen, sie aber nicht abgerissen.
Papa war der Schlüssel! Nur er wusste, wie alles genau abgelaufen war.
»Papa und du … ihr habt nie wieder darüber gesprochen, stimmt’s?«
»Nein, das habe ich mich nicht getraut. Und das traue ich mich auch jetzt noch nicht. Du solltest das besser auch nicht tun. Er wird schon sauer genug sein, wenn er von der Sache mit dem Jungen erfährt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das wird er nicht, wenn du es ihm nicht sagst.«
Mirko zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Ich habe ihm von Lorenz erzählt«, erklärte ich. »Dass er in Schwierigkeiten ist.«
Mein Bruder kannte Lorenz und winkte ab. »Der ist ja immer irgendwie in Schwierigkeiten.«
»Er geht in die Gethsemanekirche. Zu den Bürgerrechtlern.«
Das schien meinem Bruder etwas zu sagen. Er nickte nur kurz und sagte dann: »In Ordnung, das bleibt unter uns.«
Ich war mir nicht sicher, was er meinte, ging aber davon aus, dass er die Sache mit Claudius meinte.
Dann wandte er sich mir zu und sah mich ganz ernsthaft an. »Aber du musst mir eines versprechen.«
Das klang alles andere als gut, aber da ich mich im Moment zu schwach fühlte, um irgendeinen Widerstand zu leisten, nickte ich nur.
»Sei vorsichtig, und wenn es geht, triff diesen Jungen nicht mehr. Es könnte denen wieder einfallen, was Papa versucht hat, und du kannst mir glauben, das MfS verzeiht nichts.«
Ich nickte wieder, doch ich wusste genau, dass ich das Versprechen auch ohne gekreuzte Finger hinter dem Rücken brechen würde.
Mirko streckte die Arme aus und zog mich an seine Brust. Ich ließ es geschehen, obwohl ich ihm noch immer ein wenig grollte – jetzt nicht mehr wegen Mama, diese Schuld hatte er nun gesühnt. Jetzt grollte ich ihm, weil er wollte, dass ich Claudius nicht mehr wiedersah.
Nachdem er mich aus seiner Umarmung wieder entlassen hatte, ging ich ins Bad. Ich musste dieses stinkende FDJ -Hemd loswerden. Ich musste diesen furchtbaren Tag von mir herunterspülen. Ich musste versuchen, meine Gedanken zu ordnen, herauszufinden, was ich jetzt tun sollte. Klar, normalerweise waren Briefe an Claudius gestorben.
Doch wenn ich keine Adresse draufschrieb, wie sollten sie dann herausfinden, dass ich es war? An meiner Handschrift? Nun, ich könnte Sabine fragen, ob sie mir ihre Schreibmaschine lieh. Ich könnte behaupten, dass ich eine meiner Geschichten abtippen und an eine Zeitung schicken wollte. Doch wahrscheinlich würde sie die Geschichte dann sehen wollen …
Während die Gedanken in mir kreisten, entledigte ich mich meiner Kleidung. Dabei sah ich auch, warum mir übel geworden war. Ich hatte meine Tage bekommen. Zu früh, wahrscheinlich wegen des Stresses. Ich klaubte eine der dicken Binden hervor, die es bei uns häufiger gab als Tampons.
All meine Handlungen liefen automatisch, als würde mich jemand anders lenken.
Wie betäubt stand ich vor dem angelaufenen Badezimmerspiegel. Hatte er schon immer so viele blinde Flecken gehabt? Wie Windpocken lagen sie auf meinem Spiegelbild, das ich selbst nicht wiedererkannte. War das noch immer Milena, die da stand? Milena, die sich für Bücher und Musik interessierte, die Kassetten mit ihrer Freundin austauschte? Milena, die sich vor FDJ -Veranstaltungen drückte, Wandzeitungen vergaß, Schriftstellerin werden wollte und mit Mathe kämpfte?
Ich sah mir in die Augen, auf die Nase, entdeckte auf meiner Wange drei Pickel, die mir vor lauter Aufregung gewachsen sein mussten, und sah auch, dass meine Lippe an der Seite ein bisschen aufgeplatzt war – das musste beim Übergeben passiert sein, auch wenn ich nicht wusste, wie.
Äußerlich war ich immer noch ich,
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