Und morgen am Meer
aber innerlich …
Mittlerweile hielt man mich für eine Staatsfeindin. Ich war die Tochter einer Landesverräterin. Ich hatte Kontakt zum Klassenfeind. Je nach Auslegung der Stasi war ich jetzt selbst eine Verräterin, eine Staatsfeindin.
Wenn ich ehrlich war, war mir die Politik bisher egal gewesen. Und sie wäre mir auch egal geblieben, wenn ich Claudius nicht kennengelernt hätte. Und wenn diese Anhörung nicht stattgefunden hätte. Doch nun hatte ich eine furchtbare Wut auf die SED und ihre Obersten. Ich fühlte Zorn auf meinen Vater.
Nein, das war nicht mehr ich, die mich da aus dem Spiegel ansah, das war eine andere Milena. Aber ich konnte nicht sagen, dass mir diese nicht gefiel. Vielleicht war die Milena, die mich jetzt ansah, ja die richtige. Vielleicht war es gut, dass die andere Milena vor dem Rektorat sitzen geblieben und verschwunden ist.
Wütend versetzte ich meinen stinkenden Klamotten einen Tritt und drehte dann die Wasserhähne des Boilers auf.
Nach dem Bad fühlte ich mich ein kleines bisschen besser. Nicht gut, aber auch nicht mehr so schlecht wie vorher. Aus Mirkos Zimmer hörte ich laut die Puhdys. Mirko stand total auf sie, ebenso auf Karussell und City. Letztere mochte auch ich sehr, besonders das Lied »Am Fenster« hatte es mir mit seiner Geige angetan.
Dass er die Musik so laut gedreht hatte, deutete allerdings darauf hin, dass er versuchte, seine Gedanken zu übertönen. Vielleicht dachte er jetzt wieder zurück und an Mama. Oder er kämpfte gegen seine Enttäuschung an. Ich hatte ihn nicht gefragt, warum er hier war, hatte mich nicht über seinen unverhofften Besuch gefreut, sondern ihn angeschrien. Doch wenn er mich auch nur ein kleines bisschen verstand, verstand er auch, dass ich nur so und nicht anders reagieren konnte.
Unschlüssig, ob ich noch einmal zu ihm gehen sollte, blieb ich vor der Tür stehen, doch dann entschied ich mich, in mein Zimmer zu gehen. Dort schlüpfte ich in meinen braunen Trainingsanzug, das einzige Kleidungsstück, das ich auf die Schnelle finden konnte und das bequem genug war, um darin den ganzen beschissenen Tag mit Schlaf zu bekämpfen.
Als Papa nach Hause kam, hörte ich bereits an der Art, wie er die Tür zuschlug, dass auch er Ärger bekommen hatte – und das nicht zu knapp. Glücklicherweise war ich aus dem bescheuerten Blauhemd raus – es stank irgendwo im Bad leise vor sich hin.
»Milena!«, rief er so streng, wie ich ihn noch nie gehört hatte.
Ich erhob mich langsam von meinem Stuhl und ging nach draußen. Alles tat mir weh, meine Knochen, mein Hals, meine Wangen und meine Augen. Aber in dem Augenblick, da ich ihn sah, verschwanden die Schmerzen – der Zorn verschluckte sie. Mirko hatte mir wahrscheinlich nicht viel sagen können, weil er selbst noch zu klein war. Aber Papa … er könnte mir alles sagen.
Papa sah mich aus rot geäderten Augen an. Auch sein Gesicht war rot und wurde noch eine Spur dunkler, als er mich sah. Doch ich erwiderte seinen Blick trotzig. Ich hatte nichts Unrechtes getan. Im Gegenteil, er war derjenige, der mich um meine Mutter betrogen hatte!
»Du hast einem Jungen aus dem Westen geschrieben, nicht wahr?«, fragte er geradeheraus. »Wo hast du ihn kennengelernt? Und wie kommst du eigentlich dazu, dich mit so einem Subjekt abzugeben?«
Subjekt! Das klang ja beinahe so, als würde er Claudius für asozial halten.
Ich presste die Lippen zusammen und fragte mich, woher er das mit dem Jungen wusste. Als er den Brief aus der Tasche zog, den er wohl zwischen meinen Büchern gefunden hatte, war mir, als würde mir jemand den Boden unter den Füßen wegziehen.
»Du hast in meinem Zimmer herumgeschnüffelt!«, presste ich fassungslos hervor. Wie hatte er das tun können? Offenbar hatte er heute Morgen gleich seine Chance genutzt.
»Dazu habe ich auch das Recht, bei dem, was du anstellst! Du bringst uns noch in Teufels Küche! Ich musste heute stundenlang beim Parteisekretär sitzen und mir anhören, dass wir uns mit staatsfeindlichen Subjekten abgeben!«
Ich fand überhaupt nicht, dass es sein Recht war. Aber die Wut schnürte mir in dem Augenblick dermaßen die Kehle zu, dass ich ihm nicht einmal an den Kopf knallen konnte, was ich heute ausgehalten und erfahren hatte und womit mir gedroht worden war.
»Ich habe keinen Kontakt zu staatsfeindlichen Subjekten, das weißt du«, sagte ich ganz leise, dann wandte ich mich um und ging zurück in mein Zimmer. Ich wollte nicht noch einmal all das runterleiern, was ich
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