Und morgen am Meer
Gedanke, jetzt etwas zu tun, das weitreichende Konsequenzen auch für meine Familie haben konnte, bereitete mir etwas Unbehagen. Doch es brachte mich nicht dazu, umzukehren.
Noch nie war mir unser Stadtteil so leer vorgekommen. Selbst auf der Potsdamer Straße, auf der der Verkehr nie stillzustehen schien, ging es heute ruhiger zu als sonst. Mit langen Schritten stapfte ich zur S-Bahn-Station am Mexikoplatz, dessen Bahnhofsgebäude verlassen, ja fast gespenstisch dalag. Fuhr um diese Zeit überhaupt noch ein Zug?
Wenn ja, würde ich damit zur Station Möckernbrücke fahren, dort in die U1 Richtung Schlesisches Tor steigen und am Kottbusser Tor in die U8 in Richtung Osloer Straße. Die Bahnen dieser Linie fuhren unter Ostberliner Gebiet hindurch, einer der Geisterbahnhöfe, an dem sie vorbei mussten, war der Rosenthaler Platz.
Wenn ich bei dem Spaziergang mit Lorenz richtig gesehen hatte, war die Stelle, wo ich rausmusste, nicht weit von der Station entfernt. Wenn ich es also schaffte, aus dem Zug zu springen, brauchte ich nicht einmal an dem Geisterbahnhof vorbei, sondern konnte ein Stück vorher aussteigen.
Mein Herz klopfte mir bis zum Hals.
Als ich den menschenleeren Bahnstieg betrat, sah ich, dass tatsächlich noch eine Bahn fuhr. Grillen zirpten auf den Bahngleisen, bis in der Ferne das Donnern des Zugs ertönte. Nur wenig später hielt er am Bahnsteig.
In dem Waggon, in den ich einstieg, saß lediglich ein alter Mann, der ziemlich verwahrlost aussah und darauf vertraute, dass ihn niemand von den Schaffnern bemerkte.
Ich ließ mich ein ganzes Stück entfernt von ihm auf einem Sitz nieder und stellte meinen Rucksack neben mir ab.
Aus der Dunkelheit stachen nun einige Lichtflecken hervor, Straßenlampen, Fenster einiger Wohnhäuser, Reklameschilder. Von meiner späten Rückfahrt aus Ostberlin wusste ich, dass die DDR -Hauptstadt zu Nachtzeiten wesentlich spärlicher beleuchtet war.
Was Milena jetzt wohl machte?
Als ich die erste Hälfte der Strecke hinter mich gebracht hatte und endlich am Kottbusser Tor stand, fühlte ich mich, als hätte ich die Zeit in einem Eisfach verbracht. Es war nicht sonderlich kalt, ganz im Gegenteil, aber meine Angst vor dem, was ich jetzt wagen wollte, machte mir zu schaffen und ließ mich frösteln. Da half auch keine Musik mehr, den Walkman hatte ich bereits vor dem Umsteigen in die U1 wieder in meine Tasche wandern lassen.
Am Kottbusser Tor waren immerhin noch einige Leute unterwegs. Manche sahen so aus, als seien sie auf der Suche nach einem Schuss, andere wirkten, als hätten sie diesen schon bekommen. Zwei Mädchen, die mich anbettelten, gab ich ein wenig Kleingeld und erwischte dabei zufällig auch etwas von dem seltsam leichten Ostgeld, das mir im Buchladen und in der Eisdiele herausgegeben worden war. Die beiden zogen damit los, ohne sich zu beschweren.
Als die U8 in Richtung Wedding einfuhr, begann mein Herz zu rasen und meine Hände wurden kalt. Jetzt waren es nur noch wenige Minuten. Ich stieg in den beinahe menschenleeren Waggon und setzte mich dicht neben den Ausgang.
Wie betäubt sah ich aus dem Fenster, während die U-Bahn durch den Tunnel donnerte. Wieder hielt ich mir vor Augen, dass es Wahnsinn war, was ich da vorhatte. Dass es vielleicht besser wäre, durchzufahren und sich irgendwo einen Platz zum Schlafen zu suchen. Oder zurückzufahren. Aber irgendwo da draußen war Milena, und der Gedanke, dass sie weinend in ihrem Bett lag oder traurig Musik hörte, zerriss mir das Herz.
Kurz darauf kam mir noch etwas anderes in den Sinn, das mich erschreckte und mich fast dazu brachte, bis zur Osloer Straße durchzufahren.
Wenn ich den Sprung aus der Bahn oder die darauffolgende Suche nach dem Tunnelausgang nicht überlebte, würde Milena es wahrscheinlich gar nicht erfahren. Da ich Max nicht von meinem Vorhaben unterrichtet hatte, gab es auch niemanden, der ihr im Fall der Fälle schreiben würde.
Irgendwann würde meine Leiche sicher gefunden werden, doch selbst dann hatte außer mir niemand Milenas Adresse.
In diesem Moment, als wir auf das Gebiet unterhalb der DDR zurasten, dem Flecken Untergrund, das nur aus toten Bahnhöfen und schwarzen Tunnels bestand, fragte ich mich, ob es stimmte, was ich in dem Buch gelesen hatte. Ob es wirklich jemand geschafft hatte, oder ob das alles auch nur Geschichten waren.
Ich erinnerte mich an ein Kapitel aus Max’ Fluchtbuch und stellte mir den Mann vor, der die S-Bahn-Gleise entlanggekrochen war, und fragte mich, wie
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