Und morgen am Meer
es ihm in diesen Augenblicken ergangen war. Ich fragte mich, was aus dem Mann geworden war, der es geschafft hatte, durch den U-Bahn-Tunnel zu kriechen und in den Zug zu gelangen, der langsam am Geisterbahnhof vorbeifuhr. Das Buch hatte leider darüber nichts berichtet.
Nun lag schon die Weinmeisterstraße hinter uns. Neben unserem Zug konnte ich schemenhaft die Nachbargleise erkennen. Bald schon würde der Zug wieder abbremsen, denn die Rosenthaler Straße war der nächste Geisterbahnhof, nur wenige Minuten entfernt. Jetzt oder nie.
Mein Magen schmerzte, meine Knie zitterten. Die Angst brannte wie Säure in meinem Hals, brachte mein Herz zum Rasen, meine Ohren zum Zischen.
Ich erhob mich. So langsam, als hätte ich vor, an der nächsten Station auszusteigen. Nur dass es keine Station war, an der gehalten wurde. Ich musste es schaffen, bevor wir den Geisterbahnhof erreichten. Schaffte ich es nicht, übermannte mich die Feigheit, würde ich weiterfahren müssen bis Wedding. Und es dann mit dem Zug der Gegenrichtung noch einmal versuchen.
Milena, dachte ich. Ich will sie wiedersehen, unbedingt wiedersehen …
Der Zug verlangsamte, doch mein Herz schlug noch schneller. Die Luft blieb mir weg, und ich war sicher, dass es sich so anfühlte, wenn man starb. Meine zitternden Hände legten sich auf die Türgriffe. Wie viel km/h mochte der Zug noch draufhaben? Vierzig? Dreißig?
Mein Motorrad hatte noch fünfzig Sachen draufgehabt, als ich auf den Asphalt gestürzt war. Und ich hatte es überlebt.
»Ey, Junge, was machst du da?«, rief eine Stimme hinter mir, doch sie war zu weit weg, um mich zurückzuhalten. Da es keine Hand gab, die mich an der Jacke zurückzog, riss ich die Tür auf, spürte den nach Öl und Tunnel stinkenden Luftzug. Dann sprang ich in die Finsternis.
Milena
Ich weiß nicht, wie lange ich an diesem Abend auf dem Balkon saß, über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser schaute und an Claudius dachte. Jede Sekunde, die verging, trennte mich von ihm und brachte mein Herz dazu, so schlimm zu brennen, als wäre es mit Säure übergossen worden.
Es ist besser so, sagte mein Verstand. Er würde genauso Ärger bekommen wie du auch. Doch mein Herz hielt sich die Ohren zu. Wollte nicht hören, was mein blöder Verstand ihm sagte.
Ich starrte auf das eiserne Balkongerüst. Wenn ich mich dahintersetzte, hatte ich eine ähnliche Aussicht wie aus einem Gefängnis.
Wie lange sollte das noch so gehen? Warum änderte sich etwas in Ungarn, aber nicht bei uns?
Einen Tag nach unserem Zusammenstoß entschuldigte sich mein Vater noch mal für die Ohrfeige. Er sagte, dass er sich vergessen habe und dass es ihm leidtue. Vielleicht hatten ihn wirklich nur der Alkohol oder die Verzweiflung dazu getrieben. Vielleicht hatte sich aber auch all der Zorn, den er auf Mama hatte, in seinem Schlag entladen.
Trotz der Entschuldigung verhängte er Hausarrest über mich. Um sicherzustellen, dass ich nicht türmte, schloss er die Tür von außen ab und nahm die Schlüssel mit. Die Post holte er nach oben. Meist war es nur seine Zeitung und einmal eine Karte von Sabine, auf der sie mir berichtete, dass es in dem FDGB -Heim doch nicht so schlecht sei und ihr Vater sich jetzt auch wieder ein wenig beruhigt habe.
Das freute mich für sie und ich schrieb ihr zurück, dass ich mich darauf freute, sie wiederzusehen. Von dem, was vorgefallen war, schrieb ich nichts, denn es war anzunehmen, dass die Stasi weiterhin unsere Post überwachte.
Leider war Mirko auch nicht mehr hier. Noch am Tag nach dem großen Krach war er wieder abgereist. Soweit ich es mitbekam, hatte er Papa gerade noch so Tschüss gesagt, mehr nicht.
Ein bisschen feige fand ich das schon. Er ließ mich hier allein mit Papa, während er in der Kaserne weit entfernt von allem war. Aber vielleicht musste er wirklich schon wieder zurück.
Heute ließ Papa den Schlüssel wieder hier. Dazu sagte er nichts, wir hatten seit der Ohrfeige nur das Nötigste miteinander gesprochen. Ich bemerkte es, als ich zwischen meinem Zimmer und dem Bad hin- und herwechselte. In die Küche ging ich nur, um mir etwas zu essen zu holen. Die meiste Zeit aber hatte ich keinen Hunger.
Dafür war ich geradezu süchtig nach Nachrichten. Ich wollte hören, was mit den Flüchtlingen passierte, ob es neue Informationen gab. Sobald am Nachmittag das Testbild vom Fernsehbildschirm verschwand, schaute ich Nachrichtensendungen. Wie gebannt hörte ich von immer mehr Flüchtlingen, die über Ungarn
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