Und morgen am Meer
im S-Bahn-Waggon, der Schaffner war längst vorbei und es gab keinen Grund mehr, so zu tun, als wäre ich ein harter Kerl. Und Milena war nicht da, um zu sehen, dass ich bei Weitem nicht so stark war, wie ich ihr vormachen wollte.
Sie hatte mir verboten, ihr zu schreiben, sie überhaupt zu sehen.
Dafür hasste ich nicht sie, ich hasste ihren Vater, ich hasste die beschissene Stasi, das beschissene Land, die ganze Scheiße zwischen den Amis und den Russen!
Es konnte doch nicht angehen, dass sie uns auseinandertrieben! Das war gegen jedes Menschenrecht, das war gegen jede Logik. Noch während ich über den menschenleeren und etwas gruseligen S-Bahnsteig zur Treppe ging, überlegte ich fieberhaft, was ich tun konnte. Neben allen anderen Gefühlen tobte in mir auch die Sorge, dass Milena in den kommenden Tagen etwas Furchtbares passieren könnte. Wieder einmal erkannte ich, dass ich über die DDR so gut wie nichts wusste – doch das, was ich in den vergangenen zwei Wochen erfahren hatte, machte mir eine höllische Angst.
Als ich den Teltower Damm überquerte, kam mir ein Einfall. Wenn sich einer meiner Freunde mit der DDR auskannte, war es Max. Der hatte zwar selbst auch Sorgen mit seinen Verwandten, aber vielleicht konnte er mir gerade deshalb raten.
Ich brauchte nicht zu erwarten, dass Max um diese Uhrzeit noch wach war, immerhin war es schon kurz nach eins. Da ich ihn aber noch nie aus dem Schlaf gerissen hatte und wusste, dass seine Eltern momentan verreist waren, hob ich einen Kiesel auf und warf ihn gegen die Scheibe seines Zimmers. Einige Minuten vergingen. Ich hatte keine Ahnung, wie tief der Schlaf meines Freundes war, doch ein paar Mal wollte ich es noch versuchen. Immerhin ging es hier um Milena!
Drei Kiesel und viele Minuten später ging bei Max das Licht an. Er öffnete das schräg gestellte Fenster ganz und lehnte sich nach draußen.
»Claudius?«
»Ja, ich bin’s.«
»Was ist los?«, fragte er schlaftrunken nach unten. »Haben sie die Mauer aufgemacht?«
»Wenn sie das getan hätten, wäre ich nicht hier«, antwortete ich ein wenig frustriert.
»Moment, bin gleich unten.«
Max zog sich vom Fenster zurück, bald darauf ging das Licht im Flur an und ich hörte ihn die Treppe runterkommen.
Wenig später wurde die Tür aufgezogen. Max stand in Schlafanzughose und T-Shirt vor mir. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«
»Kurz nach eins«, antwortete ich. »Aber ich hätt dich nicht aus dem Bett geholt, wenn es nicht wichtig wäre.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Max, jetzt schon ein bisschen wacher.
»Milena hat Ärger bekommen. Mit der Stasi.«
»Scheiße!«, platzte es aus Max heraus. »Warum denn das? Wollte sie auch flüchten?«
»Nein, sie hat den Ärger meinetwegen. Weil ich ihr geschrieben habe.«
»Aber das ist doch Quatsch! Meine Cousinen schreiben mir doch auch.«
»Wie es aussieht, ist ihre Mutter gar nicht tot, sondern geflohen. Deshalb ist wohl die ganze Familie unter Beobachtung. Und jetzt hat Milena mich kennengelernt. Ohne zu ahnen, dass da was wegen ihrer Familie im Busch ist.«
Max machte große Augen. »Oh Mann, das ist ja abgefahren.«
»Jetzt möchte ich von dir wissen, was schlimmstenfalls passieren kann. Sie haben sie nach der Befragung wieder gehen lassen, weil sie nix verraten hat. Aber irgendwie habe ich so das Gefühl, dass da noch was nachkommt. Sie haben ihr damit gedroht, dass sie kein Abi machen darf. Und mit dem Jugendwerkhof.«
Die Art, wie Max die Luft zwischen den Zähnen einsog, gefiel mir gar nicht.
»Jugendwerkhof ist das Übelste, was passieren kann. Das ist eine Art Knast, und alle, die ich kenne, meinen, dass es da drin die Hölle sei. Meine Cousinen haben einen entfernten Bekannten, der da drin war. Der hat erzählt, dass sich ein Junge vom Dach gestürzt hat, weil er es nicht mehr ausgehalten hat. Dort drinnen versuchen öfter mal Jugendliche, sich umzubringen, und wenn nicht das, dann trinken sie Lauge, damit sie, wenn sie ins Krankenhaus eingeliefert werden, abhauen können.«
Jetzt wünschte ich mir, Max hätte mir nichts erzählt, denn meine Angst wurde auf einmal riesengroß. Wenn Milena nun dort drinnen landete? Ich sprang auf und raufte mir die Haare.
»Aber das ist doch pervers! Wie kann man Kinder in so einen Knast stecken? Ich denke, es gibt die UNO , warum unternimmt die nichts?«
»Kann ich dir auch nicht sagen. Wahrscheinlich haben alle Angst vor den Russen. Oder sie wissen nix davon. Die DDR wird es bestimmt nicht
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