Und morgen bist Du tot
unterwegs, doch zu seiner Enttäuschung war an diesem Abend niemand zu sehen. Hier hatte er das Mädchen Raluca zu finden gehofft. Sie gingen in der eisigen Luft die Stufen hinauf und betraten die düstere, höhlenartige Bahnhofshalle. Sofort bemerkte Ian eine Gruppe Straßenkinder, die sich links von ihnen zusammendrängten. Ein Stück weiter standen einige Polizisten rauchend im schwachen Schein der Deckenbeleuchtung und lachten.
»Das da drüben sind Freunde von Raluca«, sagte Ileana leise und deutete auf die Gruppe.
»Gut. Wir bringen sie woandershin.«
Gefolgt von den beiden Frauen, ging er durch die verlassene Halle, vorbei am geschlossenen Café Metropol und dem alten Mann mit Bart, der in zerlumpter Kleidung und Gummistiefeln dasaß und eine Schnapsflasche an den Mund setzte. Solange Ian sich erinnern konnte, saß er an genau dieser Stelle, den Rücken an die Wand gelehnt, immer in denselben Kleidern. Er trat beiseite und warf einen Fünf-Lei-Schein auf das Häufchen Münzen, das vor dem Mann auf dem Boden lag. Dafür erntete er ein fröhliches Winken.
In der geradezu greifbaren Stille hörte Tilling die Räder eines Zuges, der von einem benachbarten Bahnsteig abfuhr und allmählich schneller wurde. Seine Augen wanderten automatisch zur Anzeigetafel. Der Süßwarenstand machte gerade zu, doch Ian konnte den mürrischen Besitzer dazu bewegen, ihm Schokolade, Kekse, Chips und Limonade zu verkaufen, die er in mehreren Plastiktüten verstaute und zu den Straßenkindern hinüberschleppte.
Einige von ihnen kannte er. Ein großer, dünner Junge von etwa neunzehn Jahren hieß Tavian. Er trug eine blaue Wollmütze mit Ohrenklappen, eine Tarnjacke über einer grauen Windjacke und darunter weitere Schichten Kleidung. Im Arm hielt er ein schlafendes Baby, das in eine Decke gewickelt war. Tavian lächelte immer. Ob es einfach seine Natur war oder am inhalierten Farbverdünner lag, konnte Tilling nicht sagen, tippte allerdings auf Letzteres.
»Ich habe Geschenke für euch!«, verkündete er und hielt ihnen die Tüten entgegen.
Die Jugendlichen griffen danach und rempelten einander an, um hineinzuschauen. Sie wühlten den Inhalt durch. Keiner von ihnen bedankte sich.
Ileana wandte sich an eine Roma, deren Alter man nicht schätzen konnte. Sie trug eine Joggingjacke in Neonrosa und eine grellgrüne Hose und hatte einen Schal um den Hals gewickelt.
»Wie geht es dir, Stefania?«, fragte Ileana.
»Nicht so gut«, antwortete das Mädchen und riss eine Chipstüte auf. »Das Wetter ist beschissen. Um diese Zeit hat keiner Geld für die Bettler. Wo bleiben eigentlich die Touristen? Bald ist doch Weihnachten. Aber keiner hat Geld.«
Ein großer, mürrischer Junge mit schmalem Schnurrbart, der eine Plastikflasche mit Aurolac umklammerte, lamentierte darüber, wie die Truthähne, so nannten sie die Polizei in ihrem Slang, sie in letzter Zeit behandelten. Er schaute in eine der Tüten, die Stefania aufhielt, und nahm eine Tafel Schokolade heraus.
»Die lassen uns nicht in Ruhe. Die lassen uns einfach nicht in Ruhe.«
»Ich suche Raluca«, sagte Ileana. »Habt ihr sie heute Abend gesehen?«
Die Straßenkinder schauten einander an und schüttelten den Kopf.
»Wir kennen keine Raluca«, erklärte Stefania.
»Ach, komm schon, sie war doch letzte Woche hier. Ich habe mit euch allen geredet!«, sagte Ileana.
»Was hat sie denn angestellt?«, erkundigte sich ein anderes Mädchen.
»Sie hat gar nichts angestellt. Wir brauchen ihre Hilfe. Einige von euch sind in echter Gefahr. Wir möchten euch warnen.«
»Wovor denn?«, fragte der mürrische Junge mit dem Schnurrbart. »Wir sind immer in Gefahr. Für uns interessiert sich doch keiner.«
»Hat man euch Jobs im Ausland angeboten?«, erkundigte sich Ian Tilling.
Der Junge lachte verächtlich, stopfte sich ein großes Stück Schokolade in den Mund und fügte kauend hinzu: »Meinen Sie, dann wären wir noch hier?«
»Wer ist der Mann überhaupt?«, wollte ein nervöses Mädchen von weiter hinten wissen und schaute Tilling misstrauisch an.
»Ein guter Freund von uns allen«, sagte Ileana.
Andreea holte die rekonstruierten Fotos der drei toten Teenager aus Brighton hervor.
»Könntet ihr euch die bitte mal ansehen und uns sagen, ob ihr jemanden erkennt? Es ist sehr wichtig.«
Die Gruppe ließ die Bilder herumgehen, manche schauten genau hin, andere nur flüchtig. Stefania sah sie am längsten an und deutete dann auf das tote Mädchen. »Könnte das nicht Bogdana
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