Und morgen in das kühle Grab
studiert habe, werde ich nie begreifen«, sagte Vince
lachend. »Nicht zu fassen, dass das am Sonntag schon
zehn Jahre her sein soll.«
Wir setzten uns noch auf ein Glas Wein zusammen. Sie
vermieden es taktvoll, mich nach meinem Besuch im
Nachbarhaus zu fragen. Und alles, was ich dazu sagte,
war, wie nett die Barlowes seien und wie sehr ich mich
gefreut hätte, Jack kennen zu lernen.
Ich glaube aber, dass Casey bemerkt hatte, dass ich ganz
durcheinander war, denn er stand nach kurzer Zeit auf.
»Bemüht euch gar nicht erst, uns aufzuhalten«, sagte er.
»Ich weiß, dass Carley noch an ihrer Kolumne arbeiten
muss, und wir sehen uns ja dann am Sonntag.«
Auf der Rückfahrt nach Manhattan sagten wir beide
kaum ein Wort. Erst um Viertel nach sieben, als wir schon
fast in Midtown waren, sagte er: »Du musst etwas essen,
Carley. Worauf hast du Lust?«
Ich hatte überhaupt nicht ans Essen gedacht, aber jetzt
merkte ich, dass ich sehr hungrig war. »Auf einen
Hamburger. Ist das okay?«
P. J. Clarke’s, das berühmte alte New Yorker Restaurant
an der Third Avenue, hatte kürzlich nach einer
Generalrenovierung wiedereröffnet. Dort hielten wir an.
Nachdem wir die Bestellung aufgegeben hatten, sagte
Casey: »Dich bedrückt doch etwas, Casey. Möchtest du
darüber reden?«
»Noch nicht«, antwortete ich. »Ich kriege es selber noch
nicht ganz im Kopf zusammen.«
»Hat die Begegnung mit Jack dich so mitgenommen?«
Caseys Stimme klang mitfühlend. Er wusste, dass der
Anblick eines Jungen, der so alt war, wie Patrick jetzt sein
würde, mir jedes Mal einen Stich versetzte.
»Ja und nein. Er ist wirklich ein nettes Kind.« Als unsere
Hamburger kamen, sagte ich: »Vielleicht ist es besser,
wenn wir darüber reden. Weißt du, das Problem ist, dass
ich eins und eins zusammenzähle, und das Ergebnis ist
einigermaßen übel und ziemlich beängstigend.«
AM SAMSTAGMORGEN SCHALTETE NED das
Autoradio ein. Die Sieben-Uhr-Nachrichten hatten gerade
angefangen. Sein Gesicht klärte sich auf, er musste
lächeln. In Greenwood Lake, New Jersey, waren drei
Einwohner im Schlaf erschossen worden. Die Polizei
vermutete, dass es einen Zusammenhang zwischen der Tat
und dem Mord an Mrs. Elva Morgan in Yonkers, New
York, gebe. Ihr Untermieter, Ned Cooper, habe früher ein
Haus in Greenwood Lake besessen. Er soll vor kurzem
noch dort gesehen worden sein und die Opfer bedroht
haben. In der Meldung hieß es weiter, Cooper sei bereits
im Mordfall Peg Rice, jener Angestellten in einem
Drugstore, die vor vier Tagen erschossen worden war,
einer der Verdächtigen gewesen. Die ballistischen
Prüfungen seien noch im Gange. Es werde vermutet, dass
Cooper entweder in einem acht Jahre alten, braunen FordVan oder in einem schwarzen Toyota neueren Fabrikats
unterwegs sei. Er sei vermutlich bewaffnet und als
gefährlich einzustufen.
Genau das bin ich, dachte Ned: bewaffnet und
gefährlich. Sollte er vielleicht jetzt gleich hinüber zum
Gästehaus gehen und Lynn Spencer und ihren Freund
abknallen, falls der immer noch da war? Nein, besser
nicht. Hier war er sicher. Besser noch warten. Er musste
sich nach wie vor etwas einfallen lassen, wie er an Lynn
Spencers Stiefschwester, diese DeCarlo, herankommen
könnte.
Dann würden Annie und er Ruhe geben, und alles wäre
vorüber, bis auf den allerletzten Teil, wenn er seine
Schuhe und Socken ausziehen, sich auf Annies Grab legen
und abdrücken würde.
Es gab ein Lied, das Annie mochte und manchmal vor
sich hin summte: »Tanz den letzten Tanz mit mir …«
Ned holte das Brot und die Erdnussbutter aus dem
Wagen, und während er sich ein Brot schmierte, begann er
dieses Lied zu summen. Er musste lächeln, als Annie leise
mitsang:
»Tanz … den letzten Tanz … mit mir.«
AM SAMSTAGMORGEN SCHLIEF ICH bis acht Uhr,
und als ich aufwachte, fühlte ich mich besser. Es war eine
anstrengende und aufwühlende Woche gewesen, und die
Ruhe hatte mir gut getan. Mein Kopf fühlte sich klar an,
doch stimmungsmäßig war ich an einem Tiefpunkt
angelangt. Die Schlussfolgerungen, die sich mir
aufdrängten, waren so entsetzlich, dass ich mit aller Macht
wünschte, ich würde mich irren.
Während ich mir einen Kaffee machte, schaltete ich den
Fernseher ein und hörte die Meldung über die Mordserie,
der in den letzten Tagen fünf Menschen zum Opfer
gefallen waren.
Dann fing ich das Wort »Gen-stone« auf und lauschte
mit wachsendem Entsetzen den weiteren Details der
Tragödie.
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