Und morgen in das kühle Grab
immer ihr
Schlafzimmerfenster offen. Er konnte es einfach aufstoßen
und sich hineinlehnen, bevor sie überhaupt etwas merkten.
Und bei Mrs. Schafley müsste er auch nicht erst ins Haus
gehen. Er konnte einfach am Schlafzimmerfenster stehen
bleiben und ihr mit einer Taschenlampe ins Gesicht
leuchten. Sobald sie aufwachte, würde er den Lichtstrahl
auf sein eigenes Gesicht richten, damit sie ihn sehen
könnte und wüsste, was sie erwartete. Dann würde er sie
erschießen.
Er war sicher, dass die Polizei zu ihm kommen würde,
wenn sie mit den Ermittlungen anfingen. Mrs. Schafley
hatte bestimmt überall in Greenwood Lake herumerzählt,
dass er ein Zimmer bei ihr mieten wollte. »Stellen Sie sich
diese Unverschämtheit vor!« So würde sie es ausdrücken.
So fing sie immer an, wenn sie sich über jemanden
beschwerte. »Stellen Sie sich diese Unverschämtheit
vor!«, hatte sie zu Annie gesagt, als der Junge, der ihren
Rasen mähte, eine Lohnerhöhung wollte. »Stellen Sie sich
diese Unverschämtheit vor!«, als der Zeitungsausträger
gefragt hatte, ob sie vergessen hätte, ihm ein Trinkgeld für
Weihnachten zu geben.
Ob sie das auch denken würde in der Sekunde, bevor er
sie tötete? Stellen Sie sich diese Unverschämtheit vor,
mich zu töten!
Er wusste, wo Lynn Spencer wohnte. Aber er müsste
herausfinden, wo ihre Stiefschwester wohnte. Carley
DeCarlo. Warum kam ihm der Name so bekannt vor?
Hatte Annie sie erwähnt? Oder hatte Annie etwas über sie
gelesen? »Das ist es«, flüsterte Ned. »Carley DeCarlo
schrieb eine Kolumne für den Teil der Sonntagszeitung,
den Annie immer so gerne las.«
Heute war Sonntag.
Er ging ins Schlafzimmer. Der Plüschüberwurf, den
Annie so gern gehabt hatte, lag immer noch auf dem Bett.
Er hatte es nicht angerührt. Er sah sie vor sich, wie sie sich
an jenem Morgen zu schaffen machte, wie ihre Hände an
dem Überwurf zupften, bis beide Seiten genau gleich lang
waren, und wie sie dann den überschüssigen Stoff am
Kopfende unter die Kissen stopfte.
Er entdeckte die Sonntagsbeilage, die Annie auf das
Nachttischchen gelegt hatte. Er nahm sie und faltete sie
auseinander. Langsam blätterte er sie durch. Dann sah er
ihren Namen und ihr Bild: Carley DeCarlo. Sie schrieb
eine Ratgeberkolumne über Geld. Annie hatte einmal eine
Frage an sie geschickt, und danach hatte sie lange Zeit
nachgeschaut, ob sie in der Kolumne behandelt wurde. Sie
hatte vergeblich darauf gewartet, aber sie mochte die
Kolumne trotzdem und las ihm manchmal daraus vor.
»Ned, sie ist der gleichen Meinung wie ich. Sie schreibt,
dass man eine Menge Geld verschwendet, wenn man seine
Kreditkarte belastet und dann jeden Monat nur die
Mindestrate zurückzahlt.«
Letztes Jahr war Annie wütend auf ihn gewesen, weil er
sich mit der Karte einen neuen Satz Werkzeuge gekauft
hatte. Er hatte ein altes Auto auf dem Schrottplatz
erstanden und wollte es wieder herrichten. Er hatte ihr
gesagt, es mache nichts aus, dass die Werkzeuge so viel
Geld gekostet hätten, er könne sich viel Zeit lassen, um sie
abzubezahlen. Daraufhin hatte sie ihm diese Kolumne
vorgelesen.
Ned starrte auf das Foto von Carley DeCarlo. Ihm war
eine Idee gekommen. Er wollte ihr Angst machen, sie
sollte nervös werden. Seit Februar, als Annie entdeckt
hatte, dass das Haus in Greenwood Lake weg war, und bis
zu jenem Tag, an dem sie mit dem Mülllaster
zusammengestoßen war, hatte sie in ständiger Angst und
Sorge gelebt. Die ganze Zeit über hatte sie viel geweint.
»Wenn der Impfstoff nichts taugt, Ned, dann haben wir
überhaupt nichts mehr, gar nichts«, hatte sie wieder und
wieder gesagt.
In den Wochen vor ihrem Tod hatte Annie leiden
müssen. Ned wünschte sich, dass Carley DeCarlo auch
leiden sollte, dass sie sich Sorgen machen, dass sie Angst
haben sollte. Und er wusste jetzt, wie er das anstellen
wollte. Er würde ihr eine Warnung per E-Mail schicken:
»Bereite dich auf das Jüngste Gericht vor.«
Es hielt ihn nicht länger im Haus, er musste raus. Er wollte
mit dem Bus in die Stadt fahren und an Lynn Spencers
Wohnblock vorbeigehen, an ihrer schnieken Wohnung in
der Fifth Avenue. Allein der Gedanke, dass sie in diesem
Augenblick dort sein könnte, gab ihm fast das Gefühl, als
habe er sie schon im Visier.
Eine Stunde später stand Ned auf der
gegenüberliegenden Straßenseite vor dem Gebäude, in
dem sich Lynn Spencers Wohnung befand. Er wollte
gerade über die Straße gehen, als der
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