Und morgen in das kühle Grab
erstanden hatte. Ich öffnete das Fenster,
um frische Luft hereinzulassen und weil ich zugleich
feststellen wollte, welche Temperatur draußen herrschte.
Es war ein perfekter Frühlingstag, warm, mit einem
leichten Wind. Die Blumen in den Töpfen auf dem
benachbarten Fenstersims hatten ausgetrieben, und der
Himmel erstrahlte im schönsten Blau.
Als ich klein war, waren wir am 1. Mai immer zur
Marienfeier in die Kirche »Unsere liebe Frau zum Berg
Karmel« in Ridgewood gegangen, wo wir die Muttergottes
gekrönt hatten. Der Text des Liedes, das wir dabei
gesungen hatten, ging mir durch den Kopf, während ich
Lidschatten und Lippenstift auftrug.
Maria, Himmelskönigin, der Engel hohe Herrscherin, O Wurzel, der das Heil entsprießt, du Tor des Lichtes, sei
gegrüßt…
Ich wusste, warum ich gerade heute an das Lied denken
musste. Mit zehn Jahren war ich diejenige gewesen, die
ausgewählt worden war, um die Statue der Muttergottes
mit einem Blumenkranz zu krönen. Jedes Jahr wurde diese
Ehre entweder einem zehnjährigen Jungen oder einem
zehnjährigen Mädchen zuteil.
Patrick wäre nächste Woche zehn geworden.
Es ist merkwürdig, dass selbst nach langer Zeit, wenn
man die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen
verarbeitet hat und begreift, dass das Leben weitergeht,
von Zeit zu Zeit doch etwas passiert, das die Narben
unvermutet wieder aufreißt.
Genug, beschloss ich und verbat mir jeden weiteren
Gedanken dieser Art.
Ich ging zur Arbeit und war um zwanzig vor neun an
meinem Schreibtisch. Ich schenkte mir eine Tasse Kaffee
ein und schlenderte in Kens Büro, in dem Don Carter es
sich bereits bequem gemacht hatte. Kaum hatte ich zum
ersten Mal an meinem Kaffee genippt, als sich die
Ereignisse überschlugen.
Detective Clifford von der Polizei in Bedford rief an,
und was er mitzuteilen hatte, war ein echter Knüller. Ken,
Don und ich hörten über den Lautsprecher, wie er uns
darüber informierte, dass sie die E-Mails zurückverfolgt
hatten, einschließlich derjenigen, die ich gelöscht hatte –
in der die Rede vom Jüngsten Gericht gewesen war.
Alle drei waren von Westchester County aus gesendet
worden. Die ersten beiden kamen von einer Bücherei in
Hastings, die dritte von einer Bücherei in Croton. Der
Absender hatte »Hotmail« benutzt, einen kostenlosen
Internetservice, und irreführende Personalien angegeben.
»Was bedeutet das?«, fragte Ken.
»Der Absender hat seinen Namen mit Nicholas Spencer
angegeben und die Adresse von Spencers Haus in
Bedford, das letzte Woche abgebrannt ist.«
Nicholas Spencer! Wir hielten den Atem an. Konnte das
möglich sein?
»Moment mal«, sagte Ken. »Es gibt massenweise Fotos
neueren Datums von Nicholas Spencer in den
Pressearchiven. Haben Sie davon welche dem Personal in
den Büchereien gezeigt?«
»Ja, haben wir. Spencer wurde von niemandem als eine
der Personen identifiziert, die in letzter Zeit ihre Computer
benutzt hätten.«
»Sogar bei Hotmail muss man ein Passwort angeben«,
sagte Don. »Was für ein Passwort hat der Typ benutzt?«
»Er hat einen weiblichen Vornamen benutzt. Annie.«
Ich rannte hinaus, um die Originale der E-Mails von
meinem Schreibtisch zu holen, und las das letzte vor:
Als meine Frau dir letztes Jahr geschrieben hat, hast du ihr
nicht geantwortet, und jetzt ist sie tot. Du bist nicht so
schlau, wie du tust. Hast du herausgefunden, wer im Haus
von Lynn Spencer war, bevor es angezündet wurde?
»Ich wette, dass die Frau dieses Typen Annie geheißen
hat«, sagte ich.
»Es gibt da noch eine Sache, die unserer Meinung nach
interessant sein könnte«, sagte Detective Clifford. »Die
Angestellte in Hastings erinnert sich sehr genau, dass ein
verwahrlost aussehender Mann, der den Computer benutzt
hat, eine schlimme Brandwunde an der rechten Hand
hatte. Sie ist sich nicht sicher, dass er es war, der die EMails gesendet hat, aber er benahm sich so merkwürdig,
dass er ihr auffiel.«
Bevor er auflegte, teilte Clifford noch mit, dass sie
Kontakt mit den Büchereien in anderen Städten in
Westchester aufgenommen hätten. Die Angestellten seien
angewiesen worden, unter den Computerbenutzern
Ausschau zu halten nach einem Mann zwischen fünfzig
und sechzig, ungefähr einen Meter achtzig groß, eventuell
etwas verwahrlost aussehend, mit einer Brandwunde an
der rechten Hand.
Er hatte eine Brandwunde an der Hand! Ich war davon
überzeugt, dass der Mann, der mir die E-Mails geschickt
hatte,
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