Und morgen seid ihr tot
schlafen. Wir geben uns Mühe, unser Lachen zu unterdrücken, aber wir sind in diesem Zustand hysterischer Albernheit, wie er Kinder in der Schul- oder Kirchenbank regelmäßig befällt. Die Anspannung entlädt sich plötzlich an einer Nichtigkeit, und dann ist alles komisch. Der Schnurrbart des Pfarrers, der Hosenboden des Lehrers, die Brille des Banknachbarn. Es muss nur einer die Hand heben oder den Kopf drehen, und das Gelächter platzt einem erneut heraus.
Aus Angst vor Bestrafung und aus Respekt vor Locke unterdrücken wir unsere hysterische Albernheit. Nach und nach haben wir gemerkt, dass dessen Zurückhaltung kein Zeichen von Feindseligkeit ist, sondern von Sensibilität. Als Einziger scheint er so etwas wie Empathie zu empfinden und unter seinem Dasein als Taliban zu leiden. Hinter seinen Augen verbirgt sich nicht Fanatismus, sondern eine stille Melancholie.
Doch am Folgetag reist Locke ab. Er hat starkes Fieber, hat seit Tagen nichts gegessen und soll sich bei seiner Familie auskurieren. Damit bleiben uns Pumba, Depp und Guildo Horn als Bewacher. Einer begriffsstutziger als der andere. Auch wenn sie die typische Zugänglichkeit und Hilfsbereitschaft der Paschtunen an den Tag legen wollen.
Ende August zieht in der Dämmerung ein Gewitter auf. Die dunklen Wolken über der öden Landschaft türmen sich zu spektakulären Gebilden. Ein heftiger Wind jagt durch den Innenhof, in dem sich seit Wochen kein Lüftchen regte, Sand und Staub wirbeln herum, Wetterleuchten, dann das erste Donnergrollen.
Schlagartig ist es dunkel geworden, und dann setzt ein so heftiges Prasseln ein, es kracht und donnert mit einer solchen Urgewalt, dass wir spüren, wie gering wir sind, dass sich über uns Energien entladen, die mit einem Wimpernschlag alles auslöschen könnten. Auch uns, die wir uns verzweifelt an ein Leben klammern, das in diesem Spiel der Kräfte keinerlei Bedeutung hat.
Die Sturmböen haben kühle Luft gebracht, und nachdem sich der Donner gelegt und ein konstantes Prasseln eingesetzt hat, finden wir endlich in den lang ersehnten Schlaf. Doch gleich werden wir erneut geweckt, diesmal von Spritzwasser, das meinen Arm benetzt. Es tropft an so vielen Stellen durchs Dach, dass wir das Bett zig Mal verrücken, bis wir eine trockene Position gefunden haben.
Am Morgen liegt dichter Nebel über dem Hof, es riecht nach frischer Bergluft, der Sommer scheint vorbei zu sein. Wir tragen nun auch im Zimmer lange Hosen und können den Ventilator drosseln. Doch diese Erleichterung hält nicht lange vor. Wir fühlen uns vollkommen ausgelaugt und schwer, als hätten sich die Gesetze der Gravitation verändert und würden an unseren Augenlidern, unseren Gliedmaßen ziehen. Jeder Handgriff kostet unmenschliche Kraft, selbst eine flüchtige Umarmung Davids.
In den nächtlichen Träumen sehe ich meine Eltern, meine Freunde, die ihrem gewohnten Leben nachgehen, sich durch unsere Abwesenheit nicht beirren lassen. Sie genießen ihr Dasein, kämpfen nicht für uns, scheinen uns vergessen zu haben. Zwar bringt das Erwachen am Morgen einen gewissen Trost, aber der Stachel des nächtlichen Albtraums lässt sich erst durch lange Gespräche und Grübeln ziehen. Immer wieder muss David mir vorsagen, dass man uns nicht im Stich lassen wird, dass alle in unserer Heimat für unsere Freilassung kämpfen.
Nachdem wir unsere ganze Energie zusammengenommen und unsere Runden gedreht haben, diesmal auf den Blutlachen und Innereien, die von der Schlachtung eines Huhnes übrig geblieben sind, nachdem ich meinen Puls gespürt und einen Teil meiner Wut und Angst in den Boden gestampft habe, höre ich Dumbos Moped knattern. Hoffentlich hat er diesmal etwas zu essen auf dem Gepäckträger. Zwei Tage lang hat er unsere Bestellungen vergessen, und vorhin hat er uns lachend zugesichert, er habe alles im Kopf. Aber wir kennen seinen Kopf.
Er isst und betet in der Moschee, dann endlich kommt er mit seinem schlurfenden Schritt und dem üblichen Grinsen in den Hof. Ich gehe auf ihn zu und deute mit den drei Fingern, die ich Richtung Mund schiebe, »Essen« an. Er zuckt nur mit den Schultern. Ich bin fassungslos. Wir haben noch sechs Tomaten und sechs Kartoffeln. Drei Tage lang hat er uns nichts mitgebracht, drei Tage lang hat er uns mit Ausflüchten abgespeist. Ob Nase heute kommen werde, frage ich erbost. Morgen, »inschallah«, ist seine Antwort. Wie immer.
Ich laufe zu David und erzähle ihm, dass wir auch heute Abend nur ein paar verschrumpelte Kartoffeln
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