Und morgen seid ihr tot
in der Schweiz seien. Damit geben wir uns zufrieden, auch wenn aus dem einen Monat, den unsere Entführung dauern sollte, zwei geworden sind. Und die Zeit lässt sich auch an unseren Körpern ablesen: Allmählich verschwinden die Narben von den Flohbissen, Davids Bart wird immer länger.
Hans beanstandet, dass ich ohne Kopfbedeckungen und in T-Shirt herumlaufe. Die anderen Bewacher hatten sich nicht daran gestört. Wir einigen uns darauf, dass ich das traditionelle Langhemd überstreife, ein Kopftuch bleibt mir erspart, solange Nase nicht auftaucht.
Leider kommt Dumbo eine Schlüsselrolle für unser leibliches Wohlbefinden zu, er ist unser Mädchen für alles. Er besitzt ein Funkgerät und ein Moped, er fährt fast täglich in die Stadt auf den Basar, ist für den Lebensmittelerwerb und die Kontaktaufnahme mit Nase und Wali zuständig. Dumbo ist Teil der besonderen Kommunikationsstruktur, die die Taliban aufgebaut haben. Sie nutzen vor allem Kurzstreckenfunkgeräte, die wichtige Nachrichten immer in Etappen weiterleiten. Da anfangs nach Funksprüchen, die Commander persönlich abgeschickt hatten, oft Angriffe mit Drohnen oder Kampfjets gegen den Ausgangspunkt des Funkkontakts geflogen wurden, sind jetzt rangniedrige »Funker« mit dieser Aufgabe betraut. Dieses kleine Heer an Funkern koordiniert Operationen der Taliban, gibt aber auch Neuigkeiten durch, zum Beispiel den Einschlagpunkt einer Drohnenrakete oder den Grund für den jüngsten Stromausfall. Wenn Dumbo mit seinem knatternden Gefährt aufbricht, fährt er immer unsere Hoffnung spazieren. Dass er mit der lang ersehnten Nachricht zurückkehrt, heute Abend noch komme das Auto, das uns abholt – oder wenigstens mit frischen Tomaten.
Wir schreiben ihm detaillierte Einkaufslisten. Wali und Nase haben uns zugesichert, wir könnten bekommen, wonach uns der Sinn steht. Aber das Warenangebot auf dem Basar ist genauso beschränkt wie Dumbos Engagement. Wir bitten immer nur um das Lebensnotwendige, aber oft bekommen wir nicht einmal Kartoffeln oder Tomaten. Wenn wir fragen, was aus dem Thunfisch – ohnehin der Ausschuss des Weltmarkts, in ranzigem Öl, die Dose nur halb gefüllt – oder den Makkaroni geworden sei, wedelt er gewichtig mit den Armen und erzählt von nebulösen Problemen. Wir wissen nicht, ob er keine Lust hat, unsere Wünsche zu erfüllen (die nach seinen Maßstäben übertriebenen Luxus bedeuten), ob er Geld unterschlägt oder ob er Analphabet ist und die Liste nicht lesen kann. Man sagt zwar Analphabeten nach, dass sie ein besonders gut entwickeltes Gedächtnis hätten, aber Dumbo stützt diese These nicht.
Andererseits machen die Zustände auf dem Basar aber auch deutlich, welche Auswirkungen die Gesetze des »Weltmarktes« auf die Zivilbevölkerung der FATA haben. Der beste Thunfisch geht in die Erste Welt, der schlechteste in die ärmsten Regionen wie Waziristan, wo eine Dose immer noch so viel kostet wie ein ganzes Huhn und deshalb als besondere Delikatesse angesehen wird. Manchmal werden für eine solche Dose drei Dollar verlangt, bei einem durchschnittlichen Jahreslohn von rund zweihundertfünfzig Dollar, für die wenigen, die in den FATA Arbeit finden. Für alle anderen sind die Taliban die einzige Hoffnung auf Unterstützung.
Am 22. August fährt Dumbo mit Hans auf dem Moped davon, um Wali zu treffen und Neuigkeiten einzuholen. Am Nachmittag kommt er alleine zurück. Aber wenigstens hat er einen Brief dabei, geschrieben von Hans. Wie immer freundliche Grüße, eine höfliche Einleitung, aber weiter heißt es, es werde wohl bis Anfang September dauern. Ich schaue David an, er schaut mich an. Noch einmal zehn Tage, das halte ich nicht aus, denke ich. Auch Davids Miene zeigt Resignation. Jeder Tag kostet eine so enorme Anstrengung, die Gedanken kehren mit einer so obsessiven Macht immer wieder auf den einen schmerzhaften Wunsch zurück, nach Hause zu kommen, nicht vorher von einer Rakete oder einer Granate zerrissen oder von den Taliban ermordet zu werden, dass ich meine, verrückt zu werden. Unser gesamter Alltag scheint von Willkür geregelt zu sein. Der Strom, das Essen, die Kontakte mit Wali und Nase, auf nichts ist Verlass, und all diese Details verweisen immer wieder auf die eine quälende Unwägbarkeit: Dauer und Ausgang unserer Gefangenschaft.
Einmal sagt man uns zum Beispiel, wir müssten noch heute umziehen, zurück in den kleinen Innenhof. Wir denken mit Grausen an das schmale, defekte Einzelbett, an den Dreck, daran, dass es
Weitere Kostenlose Bücher