Und morgen seid ihr tot
unter Schwindelgefühlen. Wir haben keine Orientierung mehr in Zeit und Raum, sind aus dem Leben herausgefallen.
»Daniela«, dringt Davids Stimme in mein Gehirn. Er weiß jetzt mehr als ich. Woher nehme ich meine Gewissheit, dass alle Träume zerplatzt sind? Davids Stimme hört sich neutral an, auch als er ein zweites Mal ruft. Aber als ich seine Miene sehe, ist auch dieser Hoffnungsschimmer verschwunden.
Ich wische mir mit dem Kopftuch den Schweiß vom Gesicht und gehe ins Zimmer. Nase sitzt auf unserem Bett, im Schneidersitz. David steht daneben und erklärt mir, was er erfahren hat: Die Taliban fordern einhundert gefangene Mitstreiter im Tausch mit uns, der Schweizer Botschafter verhandle mit der pakistanischen Regierung, und die Taliban warteten im Moment auf den Ausgang dieser Verhandlungen. Nach den drei Ramadan-Feiertagen solle die Antwort eintreffen.
Es ist ein Schock. Einhundert Taliban. Ich denke nicht über die Details nach, wie ein solcher Austausch vonstattengehen soll, wie die Schweiz, ein neutrales Land, Pakistan oder die USA dazu bringen soll, so viele Feinde aus den Militärgefängnissen zu entlassen, Feinde, die wieder amerikanische, afghanische und pakistanische Mitbürger umbringen werden. Plötzlich ergibt sich ein neues Bild. Schon in dem Video vom 13. August mussten wir um die Befreiung von Aafia Siddiqui bitten, sie wollen also beides: Geld und Gefangene. Deshalb ist alles so langwierig. Man hat uns hintergangen mit den beschwichtigenden Versprechungen.
Aber erstaunlicherweise folgt bei mir auf den Schock ein Gefühl der Erleichterung. Die Ungewissheit, das orientierungslose Nachdenken, Grübeln und Hoffen hat einer konkreten Vorstellung Platz gemacht. Es ist, als hätte sich aus der bedrohlichen Finsternis ein Gegner gelöst. Sichtbar, greifbar und damit angreifbar. David ist still und nachdenklich, aber auch er pflichtet mir am Ende bei, dass es besser ist, die Wahrheit zu kennen.
Nase bricht nicht sofort wieder auf, sondern setzt sich mit den Jungs und Dumbo in den Hof. Wir werden dazu gebeten, und dann beginnt ein Palaver, an dem wir uns, so gut es geht, beteiligen. Die Neuigkeiten bedeuten für alle von uns, dass wir uns auf einen längeren Zeitraum einstellen müssen. Die Jungs warten in gewisser Weise genauso wie wir, das haben sie uns auch schon mehrmals gesagt, wenn wir uns beschweren wollten.
Wir sprechen unsere Unzufriedenheit mit Dumbo an. Nase hört aufmerksam zu, obwohl wir den Eindruck haben, dass er nicht überrascht ist. Er bittet uns, eine Einkaufsliste zu schreiben, um deren Erledigung er sich persönlich kümmern wolle. Die Stimmung heitert sich nach dieser »Aussprache« auf, und auch David ist plötzlich wieder guter Dinge. Zumindest gibt er sich den Anschein. Er fängt an zu bellen und zu knurren wie ein Hund, was die Taliban urkomisch finden. Sie lachen Tränen, vor allem Pumba und Dumbo, der eben noch gescholten wurde, kugeln sich vor Lachen. Dumbo hat viele Schwächen, aber nachtragend ist er nicht.
Mit dem September setzt sich die trübe Witterung fest, und jetzt, da wir auf den Ventilator nicht mehr angewiesen sind, ist plötzlich der Strom rund um die Uhr verfügbar. Dies hat zumindest den Vorteil für uns, dass wir eine elektrische Kochplatte verwenden können. Unser Gas haben nämlich die Bewacher aufgebraucht, und auf Nachschub warten wir schon länger vergebens. Allerdings ist der Betrieb der Kochplatte ein abenteuerliches Unterfangen, denn Steckdosen gibt es in unserem Zimmer nicht. Man muss die nur teilweise isolierten Kabel an zwei Polen befestigen, die aus der Wand ragen, wobei man regelmäßig einen Stromschlag bekommt. Außerdem zischen und schmoren die Kabel immer wieder, sie schlagen Funken oder brennen durch.
Dumbo hat einen portablen DVD -Player herbeigeschafft, auf dem unsere Bewacher sich stundenlang Propagandafilme über den Krieg der Taliban ansehen. Man sieht ihre Mitstreiter mit veralteten Waffen gegen die reguläre pakistanische oder afghanische Armee oder gegen die hochgerüsteten NATO -Truppen kämpfen. Wenn sie einen Feind töten, jubeln die Jungs wie Fußballfans.
Der 2. September ist ein Freitag, ein normaler Werktag. Angeblich sollen nun die Verhandlungen zwischen Pakistan und der Schweiz abgeschlossen sein. Aber Nase kommt nicht.
Er kommt am nächsten Tag. Gute Nachrichten bringt er nicht mit, nur die Neuigkeit, dass wir bald den Innenhof verlassen müssen, weil die Besitzerfamilie zurückkommt. Sie wird den Winter hier
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